Auf dem Hof in Montan war ein neuer Alltag eingekehrt. Rita half nur noch in der Küche beim Zubereiten der Mahlzeiten. Ansonsten saß sie im gemütlichen Sessel im Wohnzimmer oder bei schönem Wetter draußen im Hof. Sie liebte den Blick über das weite Land, mit den Wäldern, Weiden, Felsen und bizarren Berggipfeln am Horizont. Teilweise hatten diese immer noch eine weiße Mütze auf. Die Rufe der Kühe und die Stimmen der anderen Tiere, erfüllten das Herz der alten, kranken Dame. Tina kam täglich mit den geretteten Baby-Kätzchen vorbei. Bei diesem Anblick strahlte Rita und ihren Augen schimmerte ein besonderer Glanz. Manchmal kam Max mit den Kindern vorbei, um ihr ein wenig Gesellschaft zu leisten. Doch meistens hatte Rita die Augen geschlossen und döste vor sich hin. Vermutlich waren die starken Medikamente für die Müdigkeit verantwortlich.
Georg kümmerte sich liebevoll um seine Rita. Wenn sie schlief stand er in seinem Gewächshaus und im Kräutergarten, dort hegte und pflegte er seine Setzlinge und sowie das Saatgut. Ab und zu fuhr er nach Innsbruck, kaufte großzügig für seine Familie ein oder half Uwe in der Klinik. Die Abwechslung tat dem rüstigen Rentner gut. Er hatte das große Glück, dass er körperlich und geistig absolut topfit war.
Olga lernte täglich neue Rezepte von Rita und schrieb sich alles fein säuberlich in ein Notizbuch. Nach wie vor putzte und schrubbte sie fleißig das Haus mit Begeisterung. Immer wieder bremste Rita das Mädchen. „Meine Gute, du musst nicht jeden Tag von oben bis unten alles säubern. Gönn dir eine Pause, geh spazieren, hör Musik und genieße die Zeit mit deinem Stefan!“, Ritas Stimme klang warmherzig.
Abends, wenn Olgas Freund bei den Proben war, saßen die Frauen zusammen im Handarbeitszimmer. Doch Rita war inzwischen zu schwach, um selber zu sticken oder zu häkeln. Sie schaute meistens nur zu und lobte Olga für ihre aufwändig handgefertigten Werke.
Uwe ließ sich nur selten auf dem Hof blicken. Im Moment schaffte er es höchstens einmal pro Woche, nach seinem Rondo zu sehen. Deswegen war er Karl sehr dankbar, kümmerte sich dieser doch liebevoll und sorgfältig um das brave Pferd. In der Wohnung auf dem Huberhof war Uwe schon seit Ostern nicht mehr gewesen. Rita und Olga machten sich darüber viele Gedanken und große Sorgen. „Rita, was denkst du. Kommt Moni nicht mehr zurück?“, dabei weinte das ukrainische Mädchen leise. Rita zuckte mit den Schultern. „Meine Liebe, ich weiß es nicht, ich weiß es einfach nicht. Ach herrje, was für ein Jammer.“
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Käthe trug ihr Gepäck vor die Haustür. Kim wartete bereits nervös am Auto auf ihre Freundin. „Beeil dich, dein Zug fährt in fünfzehn Minuten.“
„Ja, ja, ich komme schon,“ Käthe schnaufte und hievte den Koffer auf die Rückbank. „Sag mal Süße, wie lange bleibst du bei deiner Schwester?“ Die Mädchen kicherten. „Eigentlich nur ein paar Tage. Aber ich hab ja die Klarinette eingepackt und die Geschenke für die Kleinen. Es sieht nur so viel aus. Kim, mein Schatz, danke dass du mich fährst.“ Käthe gab ihrer Freundin einen Kuss.
„Kein Problem, Süße. Aber ich finde, es ist an der Zeit, dass du auch den Führerschein machst.“ Käthe nickte. „Ja, das habe ich tatsächlich auch vor!“
Lina hatte sie gebeten, ihr ein paar Tage zu helfen. Simon absolvierte derzeit einen wichtigen Lehrgang und war täglich zehn Stunden außer Haus. Abends musste er lernen oder war müde von den Strapazen. Lina hatte in dieser Schwangerschaft mit einigen Beschwerden zu kämpfen. Neben Übelkeit und Erbrechen litt sie zusätzlich unter massiven Kreislaufproblemen. Daher schaffte sie es kaum, sich um Irene und Gerhard zu kümmern. Es war kein Problem für Käthe, denn sie hatte noch einige Monate frei, bevor ihr Studium in Salzburg begann. Der Wetterbericht versprach sonnige, warme Tage. Daher freute sich Käthe umso mehr auf München und auf die Zwerge. Ihre Mutter hatte ihr vorsorglich Geld überwiesen, so dass es ihnen an nichts mangeln würde.
Kims Bruder hatte sich bereit erklärt, in dieser Zeit morgens nach seiner Mutter zu schauen, so dass Kim in aller Ruhe zu Uni gehen konnte. Alles nur eine Frage der Organisation, pflegte sie zu sagen.
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Empört, fassungslos und stinkesauer beendete Uwe das Telefonat. Er spürte, wie die Aufregung in ihm hochkroch, seine Hände zitterten, das Herz raste. Schnell bekam er feuchte Augen. Er rannte in sein Arztzimmer, hielt den Kopf unter das kalte Wasser. Im Spiegel bemerkte sein ungepflegtes Äußeres und erschrak. „Scheiße, scheiße, scheiße!“, brüllte er laut. Dann riss er alle Schubladen und Türen auf, fand jedoch nicht einmal eine Schnapspraline. Klar, Alkohol war ja verboten. Aber Madame durfte natürlich tun und lassen, was sie wollte. So konnte das nicht weitergehen. Er hatte es satt!
Wütend eilte der Chefarzt in seine Wohnung, öffnete einen Rotwein und trank direkt aus der Flasche.
Zurück im Operationssaal starrten ihn die Wartenden entgeistert an. Eva blickte auf die große Uhr an der Wand und runzelte die Stirn. „Entschuldigung,“ murmelte Uwe, dann versuchte er, sich wieder zu konzentrieren. „Wo waren sie stehen geblieben?“ Doch nach einer halben Stunde gab er auf. Kopfschüttelnd drehte er sich weg. „Eva, kannst du bitte übernehmen? Mir geht es überhaupt nicht gut!“ Seine Stationsärztin nickte aufmunternd den beiden Assistenzärzten zu. „Klar, gemeinsam schaffen wir das schon. Uwe, ruh dich aus.“
Während der Chefarzt mit Thommy telefonierte, leerte er die zweite Flasche Wein. Dazu legte er sich ins Bett und war so dankbar, dass sein Freund ihm geduldig zuhörte. „Sie hat mir fürs Wochenende abgesagt. Ist das nicht furchtbar? Dabei habe ich mich so sehr gefreut. Ich kann das nicht mehr ertragen. Weißt du, ich vermisse sie jeden Tag, jede Stunde, jeden verdammten Abend. Ich bin am Ende! Glaube mir, ich werde verrückt. Gleichzeitig habe ich Angst, sie zu verlieren. Was soll ich bloß tun?“ Uwe fing an zu schluchzen.
„Ach herrje, du armer Kerl. Dann fährst du eben zu ihr? Wär das keine Option?“ Thommy hatte echtes Mitleid mit seinem Freund. Ihn so fertig zu erleben, tat ihm weh.
„Das geht nicht, dieses Wochenende hab ich Dienst, das ist schon lange so geplant.“
„Weißt du was? Ich komm dich morgen nach meiner Schicht besuchen.“
Langsam beruhigte sich Uwe, aß zwei Äpfel und ein Stück Ziegenkäse.
Später brachte er die leeren Flaschen raus in den Glascontainer, wählte Monis Nummer, doch sie ging nicht ran. Auch das noch! Er lief eine Runde im Park, dabei drückte er immer wieder auf Wahlwiederholung, dann gab er es auf.
Das Einschlafen klappte natürlich überhaupt nicht. Er war so wütend und eifersüchtig, gleichzeitig wünschte er sich seine Moni neben sich. Seine Gedanken kreisten nur noch um seine Herzdame. Wo war sie? Was machte sie gerade? Er wurde schier verrückt vor Sehnsucht. Um 23.00 Uhr stand er auf, zog sich einen schicken Anzug an und rief sich ein Taxi. Auf keinen Fall sollte sein Chauffeur ihn so sehen.
Kotzend fand er sich im Morgengrauen in der Herrentoilette des Clubs wieder. Hinter ihm stand Victor und hielt ihn fest. „Hey du Spinner, hatten wir diese Szene nicht schon einmal? Komm bitte mit, du machst doch alles noch viel schlimmer!“ Lallend erklärte Uwe seinem Oberarzt, was vorgefallen war. Daraufhin bestellte dieser ein Taxi. Victor gab dem Fahrer die Adresse von Frau Häberle in Deutschland. „Fahren Sie diesen betrunkenen Liebeskranken zu seiner Moni.“ Dazu überreichte er eine Anzahlung von 250 €, mehr Bargeld hatte Uwe nicht im Portemonnaie.
Victor hatte entschieden, dass Moni ruhig sehen sollte, wie sehr Uwe unter der Trennung litt. Vielleicht würde sich die Situation endlich ändern.