„Darling, ich vermisse dich sehr. Bitte, gib mir eine Chance, ein Gespräch, irgendwas, ich flehe dich an.“ Theatralisch übergab Victor seiner Frau den Blumenstrauß. Irina warf ihm einen arrogant wirkenden Blick zu, dabei schüttelte sie ihre langen blonden Haare nach hinten. Mit einem lauten Seufzer gab sie Victor die schwere Tasche. „Also gut, du Nervensäge. Lass uns heimgehen, ich habe Hunger. Wann operierst du unsere Moni?“ „Morgen früh um acht gehts los.“ Victor küsste Irina vorsichtig auf die übertrieben geschminkte Wange. Er liebte diese Frau abgöttisch, er spürte, wie sein Herz raste.
***
„Mein Engel, mit dieser Spezialmischung schicke ich dich ins Paradies,“ dabei zwinkerte der Chefarzt frech und hielt eine Spritze hoch. Uwe wirkte frisch und erholt, trotz der traurigen Stimmung an diesem Tag. Selbst heute bei der Beerdigung hatte er nicht geweint.
„Schatz, oh mein Gott, ich habe solche Angst.“ „Na komm, das brauchst du nicht. Es ist kein großer Eingriff. Du bist in guten Händen, in der besten Klinik überhaupt.“ Er lächelte verliebt. „Trotzdem!“ Moni blieb bei ihrer Meinung.
Während sie zusah, wie er an der Infusionsflasche hantierte, fragte sie: „Bist du bei der OP dabei?“ Uwe nickte, „Ja, aber nur als Zuschauer an der großen Scheibe. Victor ist für diese Arbeit der bessere Arzt. Er ist der Metzger.“ Uwe schüttelte sich vor Lachen.
„Alles klar, sehr aufmunternd“, jetzt endlich lächelte auch Moni. „Du bist nur für die Gehirnwindungen da drinnen der Richtige, oder was?“ Sie tippte sich mit dem Finger an die Stirn, dann küssten sie sich innig. Uwe war inzwischen ebenfalls nervös, zeigte ihr das aber nicht. Sollte er auch diese Situation ohne Alkohol überstehen, war er mit dem Thema durch. Dachte er sich.
Monis Augen wurden schwer, sie gähnte immer wieder, der Medikamentenmix schien zu wirken. Sie trank ihre Tasse Früchtetee leer, nahm einen Schluck Wasser und fragte schläfrig ihren Schatz, der neben ihr im Zustellbett lag und ihre Hand hielt: „Wenn es mir besser geht, fahren wir endlich nach Südtirol in das Chalet, oder?“
„Aber sicher, mein Engel, da freue ich mich genauso darauf. Wir könnten die von dir gewünschte Wanderung auf den Monte Piano antreten,“ doch Uwes Antwort hörte sie nicht mehr.
Schon um fünf Uhr in der Früh lag Uwe wach in seinem Bett und fand nicht mehr in den Schlaf. Er war dankbar, dass die Bauchschmerzen Vergangenheit waren. Er fühlte sich gesund. Eine Zeitlang betrachtete er seine schlafende Patientin. Dann stand er auf und suchte sein Arbeitszimmer auf. Unterwegs begrüßte er die Nachtschwestern, die ihm erstaunt zunickten.
Er räumte den Schreibtisch auf, las die Mails der letzten Tage durch und schrieb einige Notizen auf. Interessiert inspizierte der Chefarzt den aktuellen Dienstplan sowie die anstehenden Operationen. Ein Gedanke schreckte ihn hoch. Er durchsuchte all seine Schränke und Schubladen. Er hatte die Befürchtung, dass er womöglich noch irgendwo Whiskey versteckt hatte. Er fand aber nur eine Schachtel Schnapspralinen, welche er sofort in den Mülleimer warf. Ansonsten war sein Zimmer clean. Er hatte großes Glück, verspürte er keine Lust auf Alkohol.
Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es noch zu früh war, in der Verwaltung nachzusehen, ob Nicole schon da war. Also lief er zurück zu Moni, brachte ihr ein Glas Wasser und weckte sie sanft. „Mein Engel, hier trink einen Schluck“, vorsichtig küsste er sie. Mit geschlossenen Augen öffnete Moni ihre Lippen, nahm dankbar ein kleines Schlückchen und schlief direkt weiter. Uwe grinste, da hatte er es wohl gut gemeint mit dem zusätzlichen Schuss, den er ihr heut Nacht in die Infusion gegeben hatte.
Draußen im Gang entdeckte er Victor, er war ebenfalls früh dran und schien gut gelaunt. „Guten Morgen, hältst du die Stellung? Ich geh schnell rüber in die Wohnung.“ Sein Oberarzt nickte gedankenverloren.
Uwe duschte, zog sich seine Arztklamotten an und steckte das Diensthandy in seine Tasche. Auf dem Weg zurück in die Klinik meldete er sich bei Thommy, um ihn auf dem Laufenden zu halten. „Richte deiner Moni ganz viel liebe Grüße aus von Resi und mir. Sobald es bei möglich ist, erwarten wir euren Besuch. Nicht vergessen!“
Moni durchlebte die nächsten Stunden im Dämmerschlaf. Sie registrierte nicht einmal, wann sie in den OP geschoben wurde. In ihrem Kopf gab es keinerlei Gedanken. Eine große Magie nahm von ihr Besitz und packte sie in kuschelige Watte. Ihr Körper fühlte sich leicht und frei an. Es kam ihr vor, als fliege sie durch das unendliche Universum, ohne Zeit und Raum.
Uwe lief wie ein Tiger im Käfig hin und her. Seine Hände fühlten sich feucht an. Ständig bewegte er nervös seine Finger. Er verließ den Vorraum des Operationssaales, nur um eine Minute später wieder hereinzustürmen. Mit den weit geöffneten Augen und dem besorgten Blick wirkte er wie ein Irrer, der nicht wusste, wo vorne und hinten war. Victor bemerkte das Spektakel aus den Augenwinkeln und schüttelte den Kopf. So ein Spinner, dachte er bei sich. Nach knapp einer Stunde hatte er die Stellschrauben aus Monis Sprunggelenk erfolgreich entfernt. Die Metallplatte, welche die Knochen mit den Schrauben verbunden hatte, löste sich nur schwer. Victor achtete darauf, sehr präzise und vorsichtig zu arbeiten, so dass auch diese Prozedur nach einigen Minuten erfolgreich überstanden war, ohne Schaden am Knochen zu hinterlassen.
Wie besprochen wandte er sich nun den zu entfernenden Nägel und Platten am Ellenbogen zu. Victor studierte ein weiteres Mal das aktuelle Röntgenbild, zeigte und erklärte dem OP-Team, was genau er jetzt vorhatte.
Schwester Heidi kam in den Vorraum und zog Uwe unter dem Vorwand, sie müsse etwas mit ihm besprechen, mit hinaus. „Es gibt Frühstück, kommst du?“ Uwe versuchte ein freundliches Lächeln, fuhr sich nervös mit der Hand durch die Haare. „Ja klar, Kaffee! Das ist eine wunderbare Idee.“
In der Kantine traf er auf Nicole. Bei ihr ordnete er an, dass er ab jetzt immer eine Schale mit frischem Obst, Tee, Wasser und verschiedene Säfte auf seinem Schreibtisch vorfinden wollte. „Mach ich gerne, wie geht es Moni?“ Uwe erzählte ihr von der OP und von den Ereignissen der letzten Tage. Langsam löste sich seine Aufregung.
Endlich waren die angesetzten zwei Stunden vorüber und er eilte zurück auf seine Station. Auf dem Display seines Telefons erkannte er verpasste Anrufe von Hannes und Georg.
Victor war gerade damit beschäftigt, die Wunde am Ellenbogen zu vernähen. Uwe bestand darauf, dass sein Oberarzt auch diese, eher einfache Tätigkeit, übernahm. Der Assistenzarzt schaute gelangweilt zu. Eine Osteosynthese - Materialentfernung war überhaupt nicht spannend, wenn man so wie er, nur blöd danebenstand.
***
Moni wurde aus dem Operationssaal geschoben, dabei blinzelte sie das erste Mal. Sie öffnete den Mund und murmelte unverständliche Worte. Geplant war eine engmaschige Überwachung auf der Intensivstation, bis sie aus der Narkose aufwachen würde. Uwe starrte seinen Oberarzt ungläubig an, zeigte mit dem Finger auf seine Moni, dabei raunte er in sein Ohr: „Was soll das?“
Victor räusperte sich, um mit fester Stimme seinem Chef zu antworten:
„Tja, wir wissen nicht, was du ihr alles gegeben hast, aber eine Vollnarkose war nicht mehr nötig. Dein Lieblingsanästhesist und ich haben beschlossen, dass eine örtliche Betäubung völlig ausreichend ist.“
Uwe überlegte lange, bevor er eine Antwort gab. „Gut, umso besser. Dann bringt sie doch bitte gleich in ihr Krankenzimmer. Schließt sie an den Überwachungsmonitor an und gebt ihr ein starkes Schmerzmittel in die Infusion.“ Victor legte den Kopf zur Seite und hob beschwichtigend die Hände. „Meiner Meinung nach ist das ebenfalls nicht notwendig. Aber deine Entscheidung!“
Wütend stampfte Uwe davon, er hasste solche Momente.
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Gespannt behielten Käthe und Olga das Telefon im Blick. Immer wieder überprüften sie, ob es auf laut gestellt war, so dass sie den Anruf von Uwe nicht verpassen würden. Auch in Stuttgart und München wartete man auf Entwarnung.
In Monis Heimatdorf saß Klara mit Tim in der ehemaligen Wohnung von Moni und Herbert. Heute war Post aus Innsbruck gekommen. Moni hatte ihnen wie jeden Monat ein großes Paket geschickt. Bei den liebevoll ausgesuchten Geschenken lag ein langer, von Hand geschriebener Brief. So erfuhr Herberts Familie immer, was in Monis neuem Leben alles passierte.