Georg hatte es natürlich längst bemerkt, dass es Rita nicht so gut ging. Warum sie ihm nichts von ihren starken Schmerzen erzählte, war ihm allerdings nicht klar. Hatte sie kein Vertrauen zu ihm? Es machte ihn nicht nur sehr traurig, sondern auch wütend. Nachdem nun sogar Uwe und die anderen davon erfahren hatte, kam seine Liebste heute nicht um ein Gespräch herum. Von weitem erkannte er, dass Tina mit ihrem Wagen auf seinem Parkplatz stand. Georg blickte verwundert auf die Uhr, es war doch schon kurz vor acht.
Seine Tochter stand an der offenen Haustür und empfing ihn mit den Worten: „Na, das wird ja auch höchste Zeit, dass du endlich nach Hause kommst. Hast du vergessen, dass du bereits im Ruhestand bist? Du wirst hier auf dem Hof gebraucht, das war übrigens deine eigene Idee!“ Tina fuchtelte mit den Armen. Georg wich einen Schritt zurück. „Sagamal, wie redest du denn mit mir?“
„Ach, ist doch auch wahr!“, entgegnete seine Tochter ziemlich barsch.
Dann erklärte sie ihrem Vater: „Ich bin im Moment extrem beschäftigt, mit dem Aufbau meines Gnadenhofes. Die ersten Tiere sind eingetroffen und wir haben noch nicht alle Ställe fertig gestellt. Das weißt du doch alles!“ Georg zuckte mit den Schultern. „Ja und? Das war schließlich deine Idee.“ Seine Betonung lag auf den Wörtern das und deine. Unbeeindruckt zeigte Tina ihr Handy. „Uwe hat mich alarmiert!“ Inzwischen funkelten ihre Augen böse.
„Jetzt beruhigen wir uns alle und gehen rein, oder?“ Georgs sanftmütige Stimme beruhigte sie ein wenig.
Rita saß in der Küche auf einem Stuhl und spülte das Geschirr. Olga trocknete ab und räumte die Sachen in die Schränke. Schnell erkannte das Mädel Georgs Gesichtsausdruck. „Sie wollte es so,“ sagte sie mit zaghafter, dünner Stimme. Liebevoll legte Georg seine Hand auf ihre Schulter. „Alles gut, es ist nicht deine Schuld. Wir reden jetzt offen und ehrlich,“ sein Blick ruhte auf Rita.
Sie setzten sich an den großen Tisch. Olga kochte Tee, Tina telefonierte mit ihrem Mann Max und gab Bescheid, dass es heute bei ihr später wurde. Georg nahm Ritas Hand. Diese weinte jetzt leise. „Ja, mir geht es sehr schlecht. Entschuldigt, aber ich wollte euch nicht beunruhigen, weil ich zuerst dachte, das wäre nur vorübergehend. Inzwischen denke ich, dass mich der Krebs besiegen wird. Außerdem möchte ich niemanden zur Last fallen.“ Betroffene Gesichter bei allen Beteiligten. Tina schüttelte ungläubig den Kopf. „Aber um Gottes willen, was sagst du denn da?“ Georgs Augen füllten sich mit Tränen. Die ganze Zeit über streichelte er ihre Hände. Würde das Schicksal tatsächlich ein zweites Mal zuschlagen und ihm auch diese Frau nehmen?
„Wir hätten noch einmal nach Linz in die Spezialklinik fahren können und dann im Anschluss unsere USA Reise antreten. Du hast dich doch so darauf gefreut.“
Rita winkte ab und hielt sich ihre Hand an den Bauch. Vorsichtig streichelte sie darüber. „Mein allerliebster Georg, es ist zu spät, ich spüre es.“ Er stand auf, ging in sein Zimmer und kam mit einer Schachtel Medikamente zurück. „Hier, nimm wenigstens diese hier. Es ist Morphin, das lindert zumindest deine Schmerzen. Ich flehe dich an, komm mit mir in die Klinik.“ Energisch schüttelte Rita den Kopf. „Auf keinen Fall. Bitte lasst mich hier auf dem Hof. Ich möchte bei den Tieren sein und auf diese wunderbare Landschaft blicken, wenn ich meinen letzten Atemzug mache. Bitte, verstehe doch. Das hier ist und war mein Leben. Auf diesem Hof werde ich bleiben und sterben. Du kennst meinen aller größten Wunsch.“ Ritas flehender Blick traf Georg mitten ins Herz.
Keiner der Anwesenden brachte auch nur noch ein Wort hervor. Sie weinten miteinander und hielten sich dabei fest an den Händen. Die Tür ging auf und Franz trat in den Raum. Der freundliche Knecht erkannte sofort die Lage, hielt inne und flüchtete schlagartig wieder nach draußen. Das war nichts für ihn. Schnurstracks lief er zu Karl auf den Nachbarhof.
Georg war es, der die Stille unterbrach. „Olga, meine Liebe. Wo ist denn dein Stefan?“ Kaum hörbar flüsterte sie zurück: „Er hat heute Probe, er kommt aber bestimmt bald.“ Georg nickte, dann gab seiner Rita einen lauten Schmatzer auf die Wange. „Du hast doch hoffentlich nichts dagegen, wenn ich dir wenigstens eine Krankenschwester organisiere, die sich um dich kümmert, oder?“ Wieder blockte Rita ab. „Auch das möchte ich nicht. Alles soll genau so bleiben, wie es ist. Bitte!“
Tina wischte sich die Tränen aus den Augen und fuhr das kurze Stück auf den Nachbarhof, um ihr Auto in die Garage zu stellen. Auf dem Rücksitz lagerten empfindliche Tier-Medikamente, die keine hohen Temperaturschwankungen mochten. Ihre Hunde kamen ihr freudig zur Begrüßung entgegengesprungen, hüpften an ihr hoch und jaulten vor Freude. Tina streichelte sie ausgiebig, dabei achtete sie darauf, dass keiner von ihnen zu kurz kam. Sie hatte schon drei neue Interessenten für Maremmen-Abruzzen-Schäferhund Welpen. Der Gedanke daran, ihre Hündin bald wieder decken zu lassen, zauberte ihr trotz der schlechten Nachrichten ein Lächeln ins Gesicht.
Dann kam ihr Moni in den Sinn, wie sehr sie sich damals über Bruno freute. Moni! War es nicht langsam an der Zeit, dass sie wieder auf den Hof zurückkehrte? Wenn sie Uwe so sehr liebte, wie sie es vorgab, dann verstand Tina überhaupt nicht, warum diese immer noch hauptsächlich in Stuttgart wohnte. Am kommenden Wochenende würde sie Moni darauf ansprechen.
***
Moni nahm gähnend den mitternächtlichen Anruf entgegen. „Uwe Schatz, hast du so lange gearbeitet?“ „Ja mein Engel, einer von uns muss ja das Geld verdienen,“ sie kicherten vergnügt. „DAS war ein Tag!“ Uwes Stimme klang richtig fertig und doch schien er glücklich darüber, mit seiner Liebsten wenigstens zu telefonieren.
„Ja, das kannst du aber laut sagen.“
„Gott sei Dank ist auch eine schöne Sache dabei, gell meine Süße.“ „Ach ja? Bist du bescheuert? Was soll das denn sein?“ Moni gähnte ein weiteres Mal. Was faselte Uwe da.
Verunsichert hakte er nach. „Na jetzt aber, Omi Moni. Das ist doch wunderbar!“ „Hä? Schatz, sag, hast du getrunken?“ Langsam dämmerte es ihm. Wusste sie womöglich noch gar nichts davon? „Äh, hat dich Lina nicht erreicht?“
„Stimmt, ich hatte einen Anruf von ihr verpasst. Jetzt hab ich glatt vergessen, zurückzurufen. Ist was mit meinen Enkeln?“ „Ja allerdings, es werden mehr!“ Uwe lachte schallend, es war wie eine Befreiung für ihn. Plötzlich war Moni hellwach. „Wie meinst du das, es werden mehr? Sag bloß, Lina ist...“ „Ja genau, mein Engel, wir werden Großeltern.“
Gähnend schickten sie sich viele schmatzende gute Nacht Küsse durchs Telefon, beteuerten ihre Liebe und beendeten das Gespräch. Während Uwe sofort in eine Art Komaschlaf fiel, wälzte sich Moni noch stundenlang im Bett hin und her. Tausend Gedanken huschten durch ihren Kopf. Es war wie immer, Freud und Leid lagen so dicht beieinander. Unglaublich.