„Erzähl bitte weiter!“ Uwes Neugier war inzwischen riesengroß. Georg setzte sich wieder auf den Stuhl und fuhr mit seinen Erzählungen fort.
„Natürlich heiratete das junge Paar. Doch schon während der Schwangerschaft bemerkte der verliebte Mann, dass er in dieser Beziehung nichts zu melden hatte. Seine hübsche Frau traf alle Entscheidungen alleine, wohnte die meiste Zeit bei ihren Eltern und kümmerte sich nicht um ihren Mann. Dieser stürzte sich mit all seiner Energie in sein Studium, um jedem zu zeigen, was für ein toller Kerl er sei. Letzten Endes tat er dies alles nur, um seiner Liebsten zu gefallen. Er würde in seinem ganzen Leben nie wieder eine Frau so sehr lieben. Das war ihm damals schon bewusst.
Ein gesunder, kräftiger Bub kam zur Welt. Bei der Geburt durfte der Vater ausnahmsweise dabei sein. Den Namen Uwe gab ihm seine Mutter, auch diese Entscheidung traf sie alleine. Für das Familienalbum kam ein Fotograf, danach sollte der Mann wieder verschwinden.“
„Was du da sagst, klingt schrecklich, Dad!“
Georg nickte, hob eine Augenbraue. „Ab und zu verreiste die kleine Familie gemeinsam. Schließlich sollte die Welt sehen, wie glücklich alle waren. Der Mann tat jede Menge verrückte Sachen, um seine Liebste wieder für sich zu gewinnen. Ganz offiziell zeigte er sich sogar mit anderen Frauen. Dafür gab es großen Ärger und er wurde in seine Schranken verwiesen. Aber das gewünschte Ergebnis erhielt er leider nicht. Dann war die Zeit für ein Geschwisterchen gekommen. Das Paar reiste ohne den kleinen Uwe nach Portugal in eine hübsche, exklusive Villa. Hier verbrachten sie paar wunderbare Tage mit viel Zweisamkeit. Der Mann war überglücklich und schöpfte neue Hoffnung. Doch zurück in Innsbruck sollte er wieder sein eigenes Leben führen. Sie schickte ihn weg.
Uwe holte tief Luft und versuchte sich an einem Grinsen. „Tina!“ Georg nickte und zwinkerte seinem Sohn zu.
„Die Frau war eine wunderbare Mutter, sie liebte ihre beiden Kinder abgöttisch und verwöhnte sie nach Strich und Faden. Die Kleinen erlebten eine wunderbare, behütete Kindheit. Oft waren sie in Montan auf dem Hof zu Besuch. Hier lebte ihre Tante Rita mit ihrem Mann.
Dann kam dieser eine Tag, an dem der inzwischen erfolgreiche Chirurg allen Mut zusammennahm und zum Hof fuhr, um endlich klar Schiff zu machen. Er hielt dieses Leben so nicht mehr aus. Er soff sich eine Menge Mut an und ließ sich von einem Taxi fahren. Die Kinder spielten im Stall und er traf die Frauen in der Küche an. Überrascht wirkte vor allem Rita. Ihr war es schließlich zu verdanken, dass der Mann endlich die Wahrheit erfuhr.“
„Oh mein Gott ist das spannend.“ Uwe hatte einen roten Kopf vor Aufregung. Er war zwar sehr müde, spürte erneut starke Schmerzen im Bauch, doch er riss sich zusammen, um diese Wahrheit endlich zu hören.
„Rita stand auf, stellte eine Flasche Schnaps auf den Tisch und richtete den Blick auf ihre Schwester. Sag ihm endlich, was Sache ist! Der Befehlston in ihrer Stimme war eindeutig. So erfuhr der junge Mann, dass sich seine Frau zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlte und ihn deshalb nie so lieben konnte, wie er sich das wünschte. Ihren Eltern zuliebe musste sie aber zumindest nach außen hin den Schein wahren. In der damaligen Zeit waren lesbische Frauen Tabu! Daher war für sie die Gründung einer Familie so wichtig. Schließlich wartete ein Millionenerbe auf sie. Auf den vielen Reisen rund um den Globus lebte sie ihre Veranlagung aus. Wurde sie versehentlich mit anderen Frauen gesehen und fotografiert, dachte sich niemand etwas dabei.“
Mit offenem Mund starrte Uwe seinen Vater an. „Ach... Ach?“ Uwes Herz krampfte sich zusammen und er wartete darauf, dass die Tränen fließen würden. Doch sie schienen versiegt zu sein. Ein ganz anderes Gefühl breitete sich aus und wärmte seinen Körper. Er spürte eine große Erleichterung. Die Puzzleteile fügten sich endlich ineinander. Die Sicht wurde klar und deutlich.
Georg erzählte weiter: „Für mich war diese Tatsache wie eine Sackgasse. Es war auf einmal klar, dass sie mich nie lieben würde. Ich hatte nie eine echte Chance. Ja, und dann hatte ich Affären. Hey, ich hatte schließlich Bedürfnisse. Ich war ein gesunder, kräftiger und erfolgreicher Mann im besten Alter. Gleichzeitig hoffte ich tief im Inneren noch darauf, dass sich alles ändern würde. Dann verlagerte ich mein Leben in die Klinik und arbeitete Tag und Nacht. So oft es ging, durfte ich meine Kinder sehen. Denn ich liebte sie genauso sehr. Ich hoffe, du hast das immer gespürt.“
Uwe nickte. „Ja natürlich. Was ist mit Rita? Wenn Mamas Familie so reich war, warum dann das harte Leben auf dem Bauernhof in den Bergen?“ Georg legte den Kopf zur Seite. „Rita war nur die Halbschwester. Sie war ein Ausrutscher deines Großvaters nach einer Party.“
Erstarrt saß Uwe in seinem Krankenbett. Er dachte daran, dass genau jetzt der richtige Zeitpunkt zum Sterben gekommen war. Doch ein großer Gedanke, der sein Herz erwärmte, ließ ihn weiterkämpfen. „Dad, ich habe solche Schmerzen.“ Georg gab Victor Bescheid, dass sie eine weitere Infusion benötigten.
„Eins noch, warum hast du es mir nicht viel früher gesagt?“ Jetzt war es Georg, der bitterlich weinte. „Ich weiß, mein Sohn, ich weiß. Das war ein großer Fehler, doch der richtige Zeitpunkt, wann wäre der gewesen? Auf dem Sterbebett bat mich deine Mutter, dieses Geheimnis von ihr nicht zu verraten. Viel zu früh hat der Krebs sie aus ihrem Leben gerissen. Und jetzt hat es Rita erwischt.“
„Wird sie sterben?“, fragte Uwe leise. „Ja, in den nächsten Tagen.“ Wieder wartete Uwe darauf, dass er nun endlich weinen würde. So wie immer. Doch seine Tränen waren alle geweint.
***
Seufzend stand Moni von der Couch auf, nahm die bunte Handarbeitstasche und spazierte durch die Dunkelheit in die Klinik. Sie hatte neue Wolle dabei und freute sich darauf, noch heute mit Kuschelsocken für ihren Liebsten beginnen. Sie fühlte sich zwar hundemüde, konnte aber vor Aufregung bestimmt nicht schlafen.
Im Aufzug traf sie auf Victor und erschrak. „Hallo! Was ist denn mit dir passiert?“ Sein Gesicht wirkte aufgequollen, seine Augen waren rot. Statt ihr eine Antwort zu geben blickte der Oberarzt auf den Boden. „Nichts“.
„Na komm, sag schon. Was ist denn los? Gehts dir nicht gut? Hast du geweint?“ Victor nickte und antwortete nun doch: „Irina und ich, wir hatten einen ziemlich großen Streit.“ Moni legte ihre Hand auf Victors Schulter und streichelte ihn vorsichtig. „Oh, das tut mir wirklich leid!“
Er zeigte ihr die Infusionsflasche in seiner Hand. „Das hier ist die Letzte. Mehr dürfen wir dem Chef nicht geben. Entweder er schafft es oder es ist vorbei. Daumen drücken ist erwünscht.“ Moni starrte ihn ungläubig an. „Was? Wie meinst du das?“ „Die Chancen, dass er es überlebt, stehen fifty fifty.“
Es traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Hatte sie richtig gehört? Uwes Leben stand auf der Kippe? Warum war ihr nicht klar gewesen, dass er sterben könnte? Hatte sie es mal wieder nicht kapiert? Nein, sie wollte es auch nicht kapieren. Sicherlich nicht! Auf keinen Fall! Moni riss ihm die Flasche aus der Hand und rannte los. Victor blieb im Aufzug stehen.
Ohne anzuklopfen, stürmte Moni ins Zimmer und hielt die Infusionsflasche hoch. Mit flehendem Blick wandte sie sich an Uwes Vater. „Hier bitte!“, dann weinte sie hemmungslos. Moni erkannte nicht sofort, dass sie in eine ernste Unterhaltung geplatzt war. Jetzt erst sah sie Georgs mit Tränen überflutetes Gesicht. Uwe saß zur Salzsäule erstarrt schräg im Bett. „Was ist denn los mit euch?“
Uwe beruhigte sie mit den Worten: „Es wird alles gut, mein Engel. Komm, leg dich zu mir. Ich brauch jetzt deine Nähe.“
Moni küsste ihren Schatz vorsichtig auf den Mund. „Ich liebe dich so sehr!"