Georg blieb die ganze Nacht neben Ritas Bett sitzen. Immer wieder weinte er, nahm ihre Hand, küsste und streichelte sie. Mit seinen Gedanken war er hauptsächlich in der Vergangenheit. Gleichzeitig keimte in ihm der Wunsch, dass er so schnell wie möglich, leider alleine, die Reise in die Staaten antreten wollte. Da sie starke Schmerzmittel bekommen hatte, schlief Rita tief und fest bis zum Morgengrauen. Mit dem Arzt hatten sie vereinbart, dass später noch eine abschließende Untersuchung stattfinden würde. Aber dann wollte sie unbedingt zurück auf den Hof nach Montan. Es war ihr letzter Wunsch.
Mitten in der Nacht wurde Moni von Uwes Stöhnen geweckt. Sie knipste das Licht an und erschrak. Ihr Liebster war kreidebleich und dermaßen verschwitzt, dass selbst seine Haare in nassen Strähnen ins Gesicht hingen. Jetzt würgte er, in seinen Augen erkannte sie furchtbare Angst. Monis Hals schnürte sich zu, aufgeregt drückte sie schnell den Notruf Knopf. Behutsam half sie Uwe, sich aufzurichten, so dass er wieder besser Luft bekam. Sie brachte ein feuchtes Tuch und legte es auf seine Stirn. Dann gab sie ihm die Nierenschale in die Hand, doch es blieb bei dem Würgereiz. In diesem Moment kam Victor ins Zimmer gestürmt. „Was ist los?“ Außer sich vor Sorge überprüfte der Oberarzt sämtliche Vitalwerte und schloss seinen Chef wieder an den Überwachungsmonitor an. Wie sich herausstellte, war alles in Ordnung. Uwe hatte zwar wieder schlimme Entzugserscheinungen, aber kein Fieber. „Puh, mein Gott Uwe. Erschreck mich bitte nicht so,“ flüsterte Victor heiser.
Doch Uwe schlief bereits wieder. Moni bedankte sich ein weiteres Mal bei Uwes Oberarzt. Er setzte sich flegelhaft auf den Tisch und fragte Moni leise: „Kann ich mit dir reden?“ Moni nickte, „Aber natürlich. Meinst du, es gibt schon Kaffee?“
Die beiden saßen am Tisch, jeder hielt seine dampfende Tasse in der Hand und Moni wartete darauf, dass Victor das Gespräch begann. Es dämmerte bereits, als sie seine Stimme hörte. „Irina und ich, wir haben eine große Krise. Sie hat mir klar gemacht, dass sie auf keinen Fall Kinder haben möchte. Weil sie Angst um ihren Körper hat. Sie könnte dick werden und so weiter.“
Moni nickte betroffen und schaute ihn interessiert an.
„Und weil sie weiß, dass ich mir ja schon so lange Kinder wünsche, möchte sie nicht mehr mit mir schlafen. Scheinbar gefällt es ihr im Moment besser, sich mit ihrer Freundin gegenseitig zu befriedigen und dabei Fotos zu machen. Ich soll vorübergehend in der Klinik übernachten.“ Moni prustete vor Schreck den kompletten Inhalt ihres Mundes direkt auf den Tisch. „Wie bitte? Das ist doch... Da fehlen mir echt die Worte.“ Victor biss sich auf die Lippen und ließ seinen Tränen freien Lauf. „Ich bin selber völlig schockiert.“ Moni stand auf und lief zum Fenster. Mit dem Blick auf den schlafenden Uwe meinte sie trocken. „Was ist das bloß für eine Scheißzeit?“ Sie ging zurück zu Victor und nahm in den Arm. „Du kannst jederzeit zu uns kommen und im Gästezimmer schlafen. Wir sind immer für dich da, gell!“
Moni kuschelte sich zurück ins Bett und schlief noch eine Stunde, dann wurde sie von einem zärtlichen Kuss geweckt. Sie spürte die Nähe ihres Schatzes und wunderte sich über die plötzliche Genesung. „Guten Morgen Schatz, wie gehts dir?“ Verschlafen blinzelte sie Uwe an.
„Mein Engel, mit dir an meiner Seite geht es mir schon viel besser.“ Er zwinkerte, sah aber noch ziemlich fertig und mitgenommen aus. Langsam stand er auf, um zur Toilette zu gehen. Ewig lange hörte sie das Wasser laufen, da klopfte es an der Tür. Uwes Vater kam ins Zimmer. Auch er sah erschöpft aus. Er legte einen Brief auf das Kopfkissen. „Diese Zeilen soll mein Sohn heute Abend ganz in Ruhe lesen. In einer halben Stunde fahren wir auf den Hof.“ „Danke Georg, ich richte es ihm gerne aus. Wir kommen sofort runter.“
Schnell zog sich Moni an, machte sich auf die Suche nach einem Rollstuhl und versuchte, ihren Schatz zu überreden, sich reinzusetzen. „Du darfst dich noch nicht anstrengen, so lautet der Befehl!“ „Bitte nicht,“ Uwe schüttelte den Kopf. „Auf keinen Fall kann ich so durch meine Station geschoben werden. Ich werde mich zusammen reißen! Die kurze Strecke werde ich schaffen.“ So half Moni ihm beim Anziehen des Trainingsanzugs, holte aus seinem Arztzimmer seinen weißen Kittel und sprühte ihn mit Deo ein. Uwe stöpselte die Kanüle seiner Infusion ab und hakte sich bei Moni unter. Mit dem Aufzug fuhren sie zur Notaufnahme, um sich von Rita zu verabschieden. Es war nicht sicher, ob sie Uwes kranke Tante noch einmal lebend wiedersehen würden. Selbst in diesem traurigen Moment zeigte sich bei Uwe keine einzige Träne. Dieses Thema schien sich erledigt zu haben.
Lange nahmen sich alle in den Arm. „Ihr zwei seid so ein tolles Paar. Bitte, bleibt zusammen, ja? Arbeitet an eurer Liebe und denkt daran, kleine Streitereien gehören dazu.“ Es waren Ritas letzte Worte an die beiden, die sie mühsam hervor stammelte, dann schob Georg die Trage in den Krankenwagen.
Uwe wischte sanft Monis Tränen weg. „Mein Engel, wenn wir diese schwierige Zeit gemeistert haben, dann wird alles wunderschön werden.“ Seine Stimme klang sehr einfühlsam.
Später an diesem traurigen Tag begleitete Moni ihren Schatz in das Allgemeine Innsbrucker Krankenhaus, wo Dr. Haller weitere Untersuchungen durchführte. Der befreundete Kollege versprach ihm, noch heute Abend die Ergebnisse mitzuteilen. Aber auf den ersten Blick sei er sehr zuversichtlich, dass sich Uwes Leber wieder erholen würde. Dr. Haller tätschelte Uwes Schulter, „Einfach ab jetzt die Finger vom Alkohol lassen. Mach lieber an ihr rum.“ Er lachte laut, deutete auf Moni und schlug sich dabei selber auf den Schenkel. Angewidert von diesem Typ zeigte Moni ein aufgesetztes Lächeln, bedankte sich freundlich und zog Uwe mit nach draußen, wo das Taxi auf sie wartete.
***
Olga rannte mit hochrotem Kopf durch die Küche. Ihre Augen waren gerötet vom vielen Weinen. Käthe war so lieb gewesen und hatte das Kochen heute übernommen. Es gab heute schwäbische Pfannkuchen, dazu einen bunten Salat. Sie hatten noch eine Stunde bis zur Mittagszeit, eigentlich war alles gut. Bis auf die Tatsache, dass die Mädchen vorhin erfahren hatten, dass Rita zum Sterben auf den Hof kam. Seither war der Wurm drin. Franz fluchte und schrie im Stall mit sich selber. Die Kühe ließ er auf der Wiese direkt am Hof weiden. Karl kümmerte sich um die Pferde und fütterte die Ziegen. Stefan und Max stellten die Stühle, Tische und den großen Sonnenschirm auf. Margit und Elsbeth waren auf dem Nachbarshof damit beschäftigt, den Teig für Ritas Lieblingskuchen zu kneten. Tina war losgefahren, um die Kleinen früher aus dem Kindergarten zu holen. Alle sollten da sein, bei Ritas Rückkehr.
Bruno lag auf der Couch und döste. Dem Hund ging es zwar schon besser, aber er war noch geschwächt und müde. Aaron saß wachend an der Haustür und beobachtete das aufgeregte Treiben. Immer wieder winselte der Schäferhund, es schien so, als würde er genau spüren, dass dies ein trauriger Tag war. Als er den herannahenden Krankenwagen erkannte, bellte er laut und deutlich. Olga rieb ihre Hände an der Küchenschürze trocken, holte tief Luft und rannte aufgeregt nach draußen, um ihre geliebte Rita zu empfangen. Käthe setzte sich neben Bruno. Zu ihrer eigenen Beruhigung streichelte sie ihn liebevoll.