Es herrschte ein heilloses Durcheinander in den breiten Fluren der Notaufnahme. Uwe eilte mit großen Schritten herbei. An der Wand gelehnt standen zwei gelangweilt wirkende Wachmänner. Der Chefarzt runzelte die Stirn, nickte ihnen zu, fragte aber nichts. Er sah Victor, wie er gestresst an der Tür zum Notfall-Operationssaal lehnte, und gab ihm ein Handzeichen.
Von ihm ließ sich Uwe die aktuelle Situation schildern. Ein LKW Fahrer war auf der Brenner Autobahn, gleich hinter Innsbruck, in seinem 40-Tonner vermutlich total übermüdet eingeschlafen. Dabei war er ungebremst auf die gegenüberliegende Straßenseite geraten. Genau an dieser Stelle waren die Leitplanken defekt und übers Wochenende abgebaut, um diese auszutauschen. Hier stieß der LKW mit hoher Geschwindigkeit frontal mit zwei entgegenkommenden PKWs zusammen. Unglücklicherweise waren nicht nur Kinder in den Autos, sondern auch ein Abgeordneter der Regierung. Deswegen war die Kripo vor Ort, die den Unfall untersuchte. Man befürchtete, dass es sich um einen geplanten Terroranschlag handeln könnte.
Uwes Gesichtsausdruck verdüsterte sich. „Du meinst aber nicht die zwei Kasperle da draußen, oder?“ Victor schüttelte den Kopf, „Nö, die Kripo sitzt in deinem Arztzimmer und wartet auf Ergebnisse. Übrigens, den Fahrer haben Sie in ein anderes Spital gefahren.“ Uwe kratzte sich am Kinn und versuchte, alle Neuigkeiten strukturiert in seinem Gehirn abzulegen.
Dann marschierte er in das Untersuchungszimmer Nummer eins. Eva kümmerte sich hier um die verunglückten Kinder. Das Mädchen hatte eine Gehirnerschütterung, viele Prellungen und war durch Medikamente in der Infusion sediert worden. Doch Eva gab Entwarnung, hob den Daumen und freute sich, ihrem Chef mitzuteilen: „Herr Dr. Ortner, sie wird den Unfall zu 99 % ohne bleibende Schäden überstehen. Bei der Ultraschalluntersuchung haben wir nichts Besorgniserregendes entdeckt. Für ein MRT ist sie ja noch viel zu jung.“
Uwe nickte und antwortete: „Gut, sie bleibt aber bitte ein paar Tage in unserer Klinik, um ganz sicher zu sein, dass es keine kleineren Einblutungen ins Gehirn gibt, die wir ohne gründliche Untersuchungen übersehen könnten.“ Eva stimmte ihm zu.
„Übrigens, ihr kleiner Bruder hatte großes Glück im Unglück. Er wurde aus dem Auto geschleudert und landete Gott sei Dank im weichen, hohen Gras.“ Uwe atmete erleichtert aus und betrachtete den traurigen Jungen, der auf der Liege nebenan saß und ein Kuscheltier an sich drückte. Uwe klopfte Eva freundschaftlich auf die Schulter. „Das ist ja wunderbar!“ Scheinbar wachte ein Schutzengel über dem Bub, denn er hatte lediglich ein paar Schrammen an Knie und Ellenbogen. Er ging in die Hocke, um auf gleicher Höhe mit dem Kind zu sein. „Hör mir zu, du kleiner Spatz. Ich bin der Doktor Uwe, ich kümmere mich um deine Familie, keine Sorge. Gleich kommt Tante Nicole, sie wird mit dir spielen oder malen. Auf was hast du denn Lust?“ Doch der Junge ließ den Kopf hängen und gab ihm keine Antwort.
Im zweiten Untersuchungszimmer zog eine Schwesternschülerin ein Tuch über einen männlichen Körper und deckte auch das Gesicht zu. An Uwe gewandt meinte sie, „Es tut uns leid, für ihn kam jede Hilfe zu spät. Wir vermuten innere Blutungen, haben aber noch nicht geröntgt.“ Uwe nickte zustimmend. „Alles klar, danke. Macht das später. Was ist mit der Frau?“ Doch die Schwester zuckte mit den Schultern. Uwe lief weiter und sah Victor im OP.
Das hektische Treiben erzeugte bei Uwe wie immer einen ordentlichen Adrenalin- Ausstoß. Diese besondere Nervosität trieb seinen Körper zu Höchstleistungen an. Überall wimmelte es von Schwestern, Pflegern und Ärzten. Maschinen und Geräte piepsten und brummten. Uwe fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Jetzt ein Schluck Whiskey, dachte er bei sich, schämte sich aber sofort. Er tröstete sich mit dem Gedanken, er könne sich später, wenn das hier alles vorbei war, eine dicke Zigarre gönnen.
Im Vorraum des Operationssaales zog er sich rasch um, wusch sich anständig die Hände und bereitete sich vor, dem Abgeordneten das Leben zu retten. Dieser lag bereits im künstlichen Koma und war an lebenserhaltenden Maschinen angeschlossen. Sein linkes Bein wurde bei dem Aufprall völlig zerquetscht. Er hatte nicht nur sehr viel Blut verloren, sondern auch einen Schädelbasisbruch. Aus dem rechten Ohr sickerte Blut, was darauf schließen ließ, dass das Trommelfell geplatzt war und das sich dort angesammelte Blut heraustrat. Eine der Schwestern zeigte Uwe die Auswertung der Computertomografie. Sofort erkannte der Gehirnchirurg die drohende Gefahr, denn ein Teil des gebrochenen Schädelknochens drückte nach innen auf das Gehirn. Man konnte nicht sicher sein, ob kleine Splitter entstanden waren.
„Seht ihr, hier!“ Uwe zeigte mit dem Finger auf einen schwarzen Fleck. So eine Fraktur nennt man Impressionsschädelfraktur. „Wir müssen sofort operieren, um eine Infektion zu verhindern!“ Uwes bewährtes Team stand bereit und nickten sich konzentriert zu. Ein Glück, dass alle den Pager bei sich hatten und die Rufbereitschaft ernst nahmen.
***
Moni drehte das Radio lauter und hielt sich die Hand vor den Mund. „Ach wie schrecklich. Ein Terroranschlag? Oh nein, das durfte ja wohl nicht wahr sein. War ihr lieber Schatz womöglich in Gefahr?“ Sie wusste, dass sie ihn jetzt telefonisch nicht erreichen konnte. Da an Schlaf sowieso nicht zu denken war, rief sie nach Bruno für einen nächtlichen Spaziergang. Aaron, Georgs Schäferhund winselte hinter der Tür, so dass sie ihn ebenfalls mitnahm.
Sie trat in die Kälte der Nacht und sah die Rücklichter von Xavers Wagen. Beim Blick auf die Uhr fragte sie sich, was der gute Mann an einem Samstagabend so spät noch hier zu tun hatte. Jetzt erkannte sie Franz. Er stand an der Stalltüre und qualmte.
„Hey mein Lieber,“ begrüßte sie ihn freundlich, doch ihr Herz raste vor Aufregung. „Was ist denn los, ist was passiert?“
Franz grinste, „Ha, was soll schon los sein um diese Uhrzeit. Wir haben Nachwuchs bekommen. Ein süßes kleines Stierkalb hat soeben das Licht der Welt erblickt.“
„Echt? Ach Gottle, wie schön. Darf ich es sehen?“ Moni fiel ein Stein vom Herzen. Eine weitere schreckliche Nachricht hätte sie heute nicht mehr ertragen. Franz nickte wohlwollend. „Na klar, komm rein. Aber lass die Hunde bitte draußen.“
Mit genug Abstand, um Mutter und Kind nicht zu nahe zu treten, beobachteten Moni und Franz, wie liebevoll sich die Mutterkuh um ihr Kleines kümmerte. Es sah so drollig aus, wie der kleine Stier versuchte zu laufen. Doch um die Kontrolle über vier Beine zu erhalten, benötigte man Übung. Ständig flog das Kälbchen um und blieb für einige Sekunden im blutigen Stroh liegen.
Vorsichtig fragte Moni: „ Was passiert mit ihm?“ Franz kniff die Augen zu, „Ich verstehe diese Frage nicht?“
„Naja, es ist ja ein männliches Kalb.“ „Was denkst du, er wird der Nachfolger von unserem jetzigen Zuchtbullen. Dieser hat bald ausgedient. Oder wir tauschen ihn gegen einen Anderen aus, um frisches Blut in die Herde zu bekommen. Das wird Xaver abklären.“ Jetzt hörte Moni das ungeduldige Bellen der Hunde und verabschiedete sich. „Ich komme morgen wieder, um nach dem süßen Kalb zu sehen. Hat er schon einen Namen?“
„Nein, solche Entscheidung trifft immer unsere liebe Tina! Gute Nacht Moni, wo ist eigentlich dein Mann?“ Monis Gesicht verdunkelte sich. „Es hat einen schlimmen Unfall gegeben, er wird in der Klinik gebraucht.“
***
Dr. Uwe Ortner arbeitete hochkonzentriert die ganze Nacht durch. Es schien so, als laufe er ohne Alkohol zu einer neuen Höchstform auf. Sein Team und Mitarbeiter staunten nicht schlecht, als sie bemerkten, dass er in dieser langen und anstrengenden Nacht nicht einmal das kleinste Anzeichen von Müdigkeit zeigte.
Kurz nach sechs Uhr am Sonntagmorgen setzte sich Uwe mit einer Flasche Cola und der gewünschten Zigarre auf eine Parkbank. Die kühle Feuchtigkeit drang durch seine dünne Arzthose, doch die Erfrischung tat ihm jetzt gut. Uwes Augen waren durch die anstrengende Tätigkeiten gerötet und brannten wie Feuer. Sein Rücken schmerzte. Er fühlte sich schachmatt. Dennoch war er sehr zufrieden mit sich und seiner Arbeit.
Er wählte Monis Nummer und musste lange Zeit warten, bis diese sich schläfrig mit einem „Mhm", meldete.
„Hab ich dich geweckt mein Engel? Es tut mit leid.“
„Mhm, nichschlimm“, Moni gähnte herzhaft. „Und? Mein Schatz, wie geht es dir, wie ist es gelaufen?“ Fragte sie ernsthaft interessiert. Uwe sog an der Zigarre, paffte aber nur und blies den Rauch schnell wieder aus. Mit vielen Details erklärte Uwe die vollbrachten Operationen und Behandlungen, welche er in den letzten Stunden durchgeführt hatte. Zum Schluss fragte er liebevoll: „Mein Engel, bis wann kommst du zu mir nach Innsbruck?“