Georg hatte sich gut eingelebt in seinem ersten Reiseziel New York. Die pulsierende Metropole übte auf ihn einen besonderen Reiz aus. Der Seniorchefarzt fand es zum Beispiel äußerst interessant, dass viele junge Leute in Badeklamotten und Sonnenbrille kurz vor Mitternacht rollschuhlaufend durch die hell beleuchteten Straßen fegten. Es scheint in dieser Großstadt keinerlei Tabus zu geben. Halt doch, Alkohol trinken, war verboten in der Öffentlichkeit.
Schöne Scheinheiligkeit.
Georg hatte sich ein luxuriöses Hotel gegönnt, bummelte tagsüber durch die Großstadt und traf sich abends mit befreundeten Ärzten, die ebenfalls im Ruhestand waren. Mit ihnen plante er eine Tour mit gemieteten Wohnmobilen quer durch die Staaten. Georg dachte sehr oft an Rita, an Montan und natürlich an seine verstorbene Frau. Hoffentlich fand er auf dieser, seiner vermutlich letzten Reise, ein wenig Ruhe. Jeden zweiten Tag meldete er sich bei Uwe und Tina. Falls seine Kinder Probleme hatten oder seinen Rat benötigten. Schließlich hatte er den beiden versprochen, immer für sie da zu sein.
Einen Tag bevor die große Fahrt losging, wollte er sich für die nächsten Wochen mit ansprechender Lektüre eindecken. Gleich neben seinem Hotel gab es einen Büchershop. Mit seiner getroffenen Auswahl in der Hand suchte Georg die Kasse. Jetzt erst erkannte er, dass außer ihm niemand im Laden war. Er ging zurück zur Tür, öffnete und schloss sie wieder. Ein sehr leises Glöckchen bimmelte. „Hello, is someone there?“, rief er laut.
Jetzt tauchte aus dem Nichts eine Frau in einem besonders erotischen Outfit auf. Bei ihrem Anblick setzte Georgs Herzschlag für einige Momente aus. Mit einer tiefen Stimme antwortete sie: „Hello, I welcome you in my little shop.“ Mit offenem Mund stand Georg da, starrte fasziniert auf diese wunderschöne Dame, unfähig irgendetwas zu erwidern.
***
Moni hielt krampfhaft ihr Telefon fest. Sie hatte sich so sehr auf ein paar Tage in Montan gefreut. Nun war mal wieder die Klinik dazwischen gekommen. Nicht, dass sie deswegen sauer wäre, nein gar nicht. Aber sie befürchtete, dass Uwe von ihr erwartete, ebenfalls früher nach Innsbruck zu kommen. Das ging ihr eigentlich gegen den Strich. Moni überlegte daher genau, was sie nun antwortete: „Ich habe Olga versprochen, mit ihr in die Kirche zu gehen. Heute gibt es diesen Gedenkgottesdienst für Rita, eine Andacht für all die Verstorbenen in diesem Monat.“
„Ach ja, stimmt!“, murmelte Uwe leise.
„Anschließend sind wir bei Tina und Max zum Mittagessen eingeladen. Du weißt doch, es gibt dein Lieblingsgericht Tiroler Gröstl, ich bring dir natürlich was mit. Die Kinder freuen sich schon auf uns. Rondo wartet bestimmt, um wenigstens einen Spaziergang zu machen, wenn du schon nicht mit ihm ausreiten kannst."
Moni machte eine Pause, bevor sie weitersprach. „Schatz, ich möchte gerne noch bleiben.“
Uwe antwortete verständnisvoll. „Ja, mein Engel, ich weiß. Es tut mir leid, manchmal kommt eben was Wichtiges dazwischen. Ich leg mich jetzt ein paar Stunden aufs Ohr, anschließend werde ich wieder auf Station erwartet. Keine Ahnung, wie spät es bei mir heute Abend wird, aber es wäre wunderbar, wenn du dann bei mir wärst.“
„Um dir beim Schlafen zuzusehen? Du bist doch dann eh müde und kaputt.“
Uwe sog verärgert an dem dicken Klimmstängel. „Hm, womöglich, aber weißt du, ich wär dann nicht alleine. Ich liebe dich!“
Enttäuscht beendete Uwe das Gespräch. Er drückte die Zigarre aus, die keinerlei Entspannung erzeugte. Jetzt freute er sich auf die Couch und ein paar Stunden Schlaf. Die aufkeimende Lust auf Alkohol verscheuchte er gekonnt.
***
Moni entdeckte ihren Schatz direkt an der Eingangstür der Klinik. Mit einem Polizisten schien Uwe in einem ernsten Gespräch zu sein. Dennoch begrüßte er seine Moni liebevoll. Dann bat er sie, zuhause zu warten. Er würde gleich nachkommen.
Das sogenannte gleich, war eine geschlagene Stunde später. Sie nutzte die Zeit, um an der Planung ihrer verschiedenen Geburtstagsfeiern zu arbeiten. Der Gedanke, fünfzig zu werden war für Moni immer noch sehr erschreckend. Freitags würden sie also nach Stuttgart fahren, um mit ihren Freunden zu feiern. Sonntags mussten sie zurück in Montan sein, denn darauf bestanden Olga und Tina. Für einen gemütlichen Nachmittag mit Kaffee und Kuchen im Kreise der Familie und Mitarbeiter.
Monis Töchter Käthe und Lina wollten unbedingt ebenfalls dabei sein, wenn ihre Mutter ein halbes Jahrhundert alt wird. So die freundlichen Worte von Lina. Moni musste dafür noch eine Konditorei finden, die eine ansprechende Torte an diesem Tag auf den Hof bringen würde. Sie drehte die Seite um und schrieb stichwortartig weiter:
-Uwe nochmal Klinik – wie lange?
-Packen- was wird benötigt?
- Putzfrau organisieren, Chauffeur Bescheid geben
- Resi und Thommy Bescheid geben
Uwe stürmte in die Wohnung und nahm seine Moni zärtlich in den Arm. „Entschuldige mein Engel, es ist Wahnsinn, was heute los ist.“ Sie küssten sich lange, dann erzählten beide von ihrem Tag. Uwe aß nebenher dankbar das köstliche Essen seiner Schwester. „Mhm, ist das lecker, fast so lecker wie du.“ Uwe zwinkerte frech. „Schön, dass du da bist.“
Moni stand auf und stellte sich hinter ihn. Sie massierte seinen verspannten Nacken und küsste ihn sanft. Doch es schien ihm unangenehm zu sein, vorsichtig nahm er ihre Hände. „Liebling, ich möchte erst in die Wanne.“
Moni lächelte, „Gut, mach das mein Schatz. Dann geh ich gleich die Abendrunde mit Bruno!“
Später lagen sie eng ineinander verschlungen im Bett. Verschwitzt und glücklich strahlten sie sich an und genossen die Nähe des anderen. Moni legte ihren Kopf auf Uwes Brust. „Schatz, es war megaschön. Mein Loverboy, ich liebe dich!“
Solche Worte lösten bei Uwe ein kribbelndes Glücksgefühl aus. Eine Woge der Zufriedenheit durchfloss jede Zelle seines Körpers. Er streichelte Monis Hand und fragte sich, wann genau der richtige Zeitpunkt für einen würdigen Heiratsantrag war. Gewiss nicht jetzt, oder doch?
***
Monis Fäden waren gezogen, sie durfte wieder Duschen und auch den Fuß leicht belasten. Ohne Krücken humpelte sie fröhlich durch die Gänge der Klinik. Sie hatte Uwe versprochen, heute in der Verwaltung auszuhelfen. Nicole war im Urlaub, noch dazu waren zwei Mitarbeiter krankgeschrieben. Megan wartete schon auf Moni, um sie in die anfallenden Tätigkeiten einzuweisen. „Hallo, arbeitest du nicht in der Personalabteilung?“ Megan lächelte freundlich. „Servus Moni, ja, aber erst seit einem haben Jahr. Früher war das hier mein Arbeitsplatz. Komm, ich erkläre dir das Wichtigste.“ „Sehr gerne,“ bedankte sich Moni.
Dr. Jo Baker hatte den Vertrag unterschrieben und war zusammen mit seiner Frau in die Staaten zurückgereist. Es gab einiges zu organisieren und erledigen. In zwei Wochen war sein erster Arbeitstag geplant. Das Ehepaar Baker hatte sich entschieden, eine Wohnung im Personalwohnheim zu mieten. Für die Anmeldung und Ankunft des neuen Oberarztes hatte Megan Formulare und Bescheinigungen auszufüllen. Sie setzte sich mit ihren zu bearbeitenden Unterlagen an den gegenüberliegenden Arbeitsplatz von Moni. „Du kannst mich jederzeit ansprechen, wenn ich dir weiterhelfen soll.“
Beide Frauen arbeiteten konzentriert, ab und zu fragte Moni Kleinigkeiten. Sie kamen gut voran. Nach über einer Stunde stand Megan auf und streckte sich. „Du, ich mach mal ne Pause. Muss sowieso zur Toilette.“ „Alles klar, kein Problem, ich komm bestimmt alleine zurecht,“ antwortete Moni motiviert.
Doch schon nach wenigen Minuten benötigte sie Hilfe. Ihr fehlte das Geburtsdatum einer Mitarbeiterin, für die sie einen speziellen Lehrgang buchen sollte. Ihre Idee, einfach bei Megans Unterlagen nachzuschauen, war im Grunde genommen richtig.
Moni sah sich auf Megans Schreibtisch um und suchte nach einer Liste. Leider fand sie keinerlei Notizen über diesen Lehrgang. Moni schob vorsichtig die Blätter und Dokumente zur Seite. Plötzlich sprang ihr eine Annonce ins Gesicht, bei deren Überschrift ihr warm und kalt gleichzeitig wurde.
Chefarzt-Sekretärin für alle Belange zum sofortigen Eintritt dringend gesucht.
Sie überflog die komplette Stellenbeschreibung und blinzelte mehrmals. Warum nur füllten sich ihre Augen mit Tränen.
Der Gedanke, dass eine andere Frau, womöglich jung, hübsch, dynamisch, den ganzen Tag um ihren Uwe Schatz herum tänzelte, mit ihm lacht und... Sie hielt sich die Hand vor den Mund. Nicht auszudenken. ...Für alle Belange... wie sich das anhörte. Sie spürte ihren Puls an der Schläfe pochen. Sie war doch nicht etwa eifersüchtig? Sie musste sich das wohl endlich eingestehen. Moni hörte Schritte, die näher kamen, daher flitzte sie zurück zu ihrem Arbeitsplatz und wischte sich schnell die Tränen weg.
Diese Sache ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Jetzt war sie sehr gespannt, wann Uwe ihr davon erzählen würde, oder sollte sie ihn darauf ansprechen?