Victor saß bei Uwe am Bett mit einem Stapel an Notizen, Unterlagen und Formulare. Er benötigte von seinem Chef Unterschriften, verschiedene Informationen sowie seine Meinung bei zwei Röntgenaufnahmen. Doch schon nach einer Stunde fielen Uwe die Augen zu. Moni hatte es sich auf dem schmalen Balkon in der warmen Frühsommersonne gemütlich gemacht. Sie strickte an den neuen Socken, aber immer wieder klingelte ihr Telefon. Ihre Strickfreundinnen und ihre Schwester hatten viele Fragen, gleichzeitig erkundigten sie sich nach Uwe, Rita und Bruno. Tina hatte ihr eben Bescheid gegeben, dass es dem Hund besser ging. Gott sei Dank.
Da Uwe inzwischen tief und fest schlief, spazierte Moni zu dem nahe gelegenen Supermarkt, um den Kühlschrank zumindest ein wenig zu befüllen. Es waren ja nicht viele Lebensmittel, die Uwe in den ersten Tagen essen durfte, daher war die Einkaufsliste nicht lang.
Nachmittags erledigte Uwe im Bett sitzend den restlichen Verwaltungskram und hing oft am Telefon. Thommy kündigte sich für den nächsten Tag an. „Mensch Uwe, du machst vielleicht Sachen! Ich brauch dich doch noch.“ Die Stimme seines Kumpels klang weinerlich. Uwe antwortete positiv. „Du, ich hab dir so viel zu erzählen. Ich verspreche dir und euch allen, dass ich nie wieder auch nur einen Tropfen Alkohol trinken werde!“
Abends, nach einer weiteren Infusion, entließ sich der Chefarzt selbst. Moni hatte einen großen Topf Bouillon mit Kartoffeln und Karotten gekocht. Die ganze Wohnung duftete köstlich. Glücklich saßen sie sich am Esstisch gegenüber und löffelten ihre Schüsseln leer. „Schon morgen früh bekommst du wieder Kaffee, mein Schatz!“ Uwe strahlte, „Das ist wunderbar. Da freue ich mich schon.“ Sie hatten einen gemütlichen Fernsehabend auf der Couch geplant. Allerdings wurden sie schon nach zehn Minuten durch das Klingeln von Uwes Telefon gestört. Als er sah, wer der Anrufer war, drückte Uwe deprimiert auf den Lautsprecher, so dass Moni das Gespräch mithören konnte.
Mit leiser Stimme erklärte Georg: „Es ist vorbei. Nachdem alle Familienmitglieder und Mitarbeiter versammelt waren, verkrampfte sich Ritas Gesicht zu einem breiten Lächeln. Olga hielt ihre Hand, die Kinder tobten hinter Aaron her und Franz trieb genau in diesem Moment die Kühe zurück in den Stall. Sie blicke ein letztes Mal auf die Berge, verdrehte die Augen, dann erbrach sie Blut. Ich gab ihr beide Morphindosen, so wie wir es besprochen hatten. Selig schlief sie im Kreise ihrer Liebsten auf dem Hof ein.“
Betroffene Stille. Dann flüsterte Uwe: „Ach... das tut mir so leid.“
In Uwes Blick lag eine unendlich große Traurigkeit. Moni fing sofort an zu weinen.
„Olga musste ich ein Beruhigungsmittel verabreichen. Das verstörte Mädchen erlitt einen Nervenzusammenbruch.“ „Ist Stefan nicht da?“ „Doch, er kümmert sich inzwischen um sie.“ Jetzt mischte sich Moni in das Gespräch ein. „Braucht ihr meine Hilfe? Soll ich kommen?“ Uwe nahm sie zärtlich in den Arm.
„Das ist sehr lieb von dir, Moni. Aber bleib bitte bei Uwe, er braucht dich im Moment mehr!“, gab Georg zu verstehen. Daraufhin nickte Uwe und verzog seinen Mund zu einer Schnute, um einen Kuss anzudeuten.
„Käthe ist hier und hilft beim Kochen. Außerdem kümmert sie sich liebevoll um Bruno. Übrigens, Käthe ist ein tolles, fleißiges Mädchen. Du kannst sehr stolz auf deine Tochter sein!“ Daraufhin schluchzte Moni laut und lief ins Badezimmer.
„Dad, mein Entschluss ist gefasst. Ich werde nie wieder Alkohol trinken!“ „Das sind wunderbare Nachrichten. Weißt du was? Ich auch nicht. Dieses Teufelszeug rühre ich ebenfalls nicht mehr an.“ Lächelnd beendete Uwe das Gespräch. Moni hatte sich wieder einigermaßen gefangen. Gemeinsam überlegten sie, wen sie nun alles über Ritas Tod informieren sollten. Uwe hatte schon wieder einen kleinen Schwächeanfall, deswegen legten sie sich dazu ins Bett.
Plötzlich klingelte es an der Haustür. Uwe blickte skeptisch und verwundert zu Moni. „Wer um alles in der Welt kann das sein?“ Moni schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. „Ach, es ist bestimmt Victor!“ „Victor? Warum das denn?“ „Sorry mein Schatz, ich habe vergessen, es zu erwähnen. Sie haben einen handfesten Ehestreit. Ich habe ihm versprochen, dass wir für ihn da sind und er im Gästezimmer übernachten kann.“ Erstaunt hob Uwe die Augenbrauen. „Aha...“
Moni schlüpfte in ihren Bademantel und öffnete Victor die Tür.
Die Ärzte besprachen die Auswertungen von Uwes Untersuchungen. Die Entzündungswerte waren schon wesentlich besser. Die Medikamente haben glücklicherweise angeschlagen. Uwe würde noch einmal mit einem blauen Auge davon kommen. Die Leber hatte eine gute Chance sich wieder zu erholen, aber nur, wenn Uwe tatsächlich nichts mehr trinken würde. Moni verschwand für eine Weile im Badezimmer, so dass Victor von Mann zu Mann über seine Probleme reden konnte.
Kurz bevor sich Victor ins Gästezimmer verabschiedete, erinnerte er Moni daran, dass es absolut an der Zeit war, ihre Metalle entfernen zu lassen. „Hör zu, meine Gute. Das Zeug muss jetzt echt raus. So schnell wie möglich.“ Betroffen nickte Moni, „Ja ok, gleich nächste Woche? Wie lange bin ich dann außer Gefecht?“
Victor überlegte kurz, bevor ihr zur Antwort gab. „Nun, einige Tage solltest du in der Klinik bleiben, dann noch ungefähr zwei bis drei Wochen schonen. Bis du wieder richtig Sport machen kannst dauert es vermutlich sechs Wochen.“
„Mein Engel, ich weiß nicht, ob ich nächste Woche schon fit genug bin,“ bemerkte Uwe. Moni wunderte sich. „Für was denn? Ich dachte, Victor operiert mich?“ „Natürlich, aber ich muss mich doch um dich kümmern.“ „Gut, dann eben übernächste Woche.“ Sie küssten sich liebevoll und schliefen eng umschlungen ein.
Nachts wachte Uwe an seinen starken Bauchkrämpfen auf. Moni war schnell aus dem Bett geschlüpft, um Victor zu alarmieren. Doch Uwe hielt sie zurück. „Nein, warte. Lass ihn schlafen, der ist auch fertig.“ Er schleppte sich mühsam zur Toilette. Moni wartete im Schlafzimmer und lauschte den merkwürdigen Geräuschen. Ihre Gedanken kreisten ständig um das gleiche Thema. Warum nur passieren immer wieder diese Schicksalsschläge? Wann kehrte endlich Ruhe in ihr Leben? Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als eine sorgenfreie und glückliche Zeit. Was nützte ihnen das viele Geld? Nichts! Rein gar nichts!
***
Einer der traurigsten Tage auf dem Huber Hof neigte sich dem Ende zu. Olga lag schlafend neben Bruno auf der Couch. Stefan saß betrübt auf dem Stuhl und starrte an die Wand. Georg lief unruhig in der Küche auf und ab. Immer wieder stellte er eine Flasche Wein auf den Tisch, nur um sie nach wenigen Sekunden wieder wegzuräumen. Er hatte es seinem Sohn versprochen und er würde sich daran halten. Der Wunsch, sich sinnlos zu betrinken, war riesengroß. Franz saß still am großen Tisch und trank in kleinen Schlückchen sein Bier. Elsbeth war dabei, die Küche in Ordnung zu bringen. Sie betete und jammerte vor sich hin.
Auf dem Nachbarhof brannten noch alle Lichter. Max brachte die Kinder ins Bett, da Tina nicht in der Lage dazu war. Sie kümmerte sich stattdessen zusammen mit Margit und Karl um die Tiere. Niemand redete auch nur ein Wort.