Am Nachmittag lag Frau Häberle wieder wach in ihrem Bett. Sie fühlte sich jetzt, da alle gegangen waren, sehr einsam. Schon wieder kullerten die Tränen. Da schrie sie laut los und prompt kamen zwei Schwestern angerannt. Zaghaft brachte sie ein „Hallo“ heraus, hob ihre linke Hand, sie versuchte, zu grinsen. Das geschulte Personal erkannte sofort, dass nichts passiert war. Die Patientin benötigte nur Aufmerksamkeit. Sie kontrollierten die Schläuche der Infusionen, schauten nach dem Verband der Zehen-Amputation, schüttelten Kopfkissen und Decke aus und hatten viele freundliche und aufmunternde Worte. „Der Arzt kommt gleich bei Ihnen vorbei.“
Also wartete sie, dabei versuchte sie krampfhaft sich zu erinnern. Was war passiert? Wo waren die Mädels? Wo war ihr Mann? Dann fiel es ihr wieder ein. Weitere Tränen suchten sich ihren Weg.
Plötzlich stand er vor ihr, den Kopf zur Seite geneigt, freundlich lächelnd. Mit seiner samtigen Männerstimme begrüßte der Chefarzt seine Patientin. „Frau Häberle, schön, dass Sie wach sind. Wie geht es Ihnen inzwischen?“ Moni nickte nur.
„Ich habe eine gute Nachricht, es gibt heute das erste Essen. Sie haben doch bestimmt Kohldampf?“ Doch Moni schüttelte den Kopf. „Nö, ich hab Durst, gibt es keine Getränke? Vielleicht einen Espresso?“ Der Chefarzt musste lachen, „Leider nein, Kaffee gibt es erst morgen. Heute beginnen wir ganz sachte, damit sich Magen und Darm wieder an ihre Arbeit gewöhnen.“ Moni brachte nur ein resigniertes „Mhmm“ heraus. Das Reden war so anstrengend, auch das Denken. Eigentlich wollte sie wieder weiter schlafen, als sie die Stimme des Arztes hörte.
„Und jetzt meine liebe Frau Häberle stehen wir auf!“ Entsetzt starrte Moni den Mann in seiner weißen Jacke an. „Was?“ Sie schüttelte energisch den Kopf. Wie sollte das denn gehen? Der Typ hatte wohl ein Rad ab.
Doch Uwe war sich sicher, dass sie es schaffen würde. „Wir müssen doch den Kreislauf ankurbeln. Auch die Schläuche sollten weg oder?“ Moni bekam es mit der Angst zu tun, sie fühlte sich so schwach und müde. Gleichzeitig wollte sie dem Arzt zeigen, was in ihr steckte.
Der Arzt schlug die Decke zurück, nahm Monis Beine und legte diese ganz vorsichtig Richtung Bettkante. Danach richtete er Monis Oberkörper auf, nahm den verletzten rechten Arm ebenfalls sehr vorsichtig hoch und befahl ihr, sich mit der gesunden linken Hand abzustützen und hochzudrücken. Es gelang ganz gut und tatsächlich saß die verunglückte Frau schräg in ihrem Bett, es wurde ihr leicht schwindelig und sie bekam sofort Kopfschmerzen. „Aua, alles tut weh“.
„Ja, das glaube ich, es tut mir so leid, aber das wird jetzt jeden Tag besser. Vertrauen Sie mir, bitte.“ Er drückte Moni, die inzwischen wieder weinte, vorsichtig an sich und streichelte ihr über die Haare und über den Rücken. „Ich bin immer für Sie da! Also los!“ Vorsichtig hob er Moni hoch, so dass diese ganz kurz mit ihrem rechten Fuß den Boden berührte, doch sofort jammerte die Frau aus dem Schwabenland. Daher legte sich Moni wieder zurück, Uwe half ihr schweigend dabei. Zum Schluss deckte er sie fürsorglich wieder zu.
Moni wurde sehr müde, als der Arzt ihr erklärte, welche Verletzungen sie genau hatte, hörte er als Antwort nur ein leichtes Schnarchen.
Kim und Käthe standen in der Stationsküche, die Mädchen hatten einen Spaziergang gemacht, viel geredet und gelacht. Nun bereiteten sie gemeinsam Monis erstes Essen zu. Es bestand aus einer zerdrückten weichen Kartoffel mit ganz wenig Salz und einem winzigen Stück Butter, einer kleinen Portion Haferschleim und einer großen Kanne Matetee.
Kim lief fröhlich voraus, ganz stolz brachte Käthe auf einem Tablett die Mahlzeit in das Krankenzimmer ihrer Mutter. Ganz erschöpft lag diese im Bett. Inzwischen hatte man ihr ein Fernsehgerät mitsamt Fernbedienung gebracht. Als sie Käthe erkannte strahlte die Mama übers ganze Gesicht. „Mein Schatz.“ Käthe kuschelte sich vorsichtig an die Mutter ran und meinte: „Mama, ich habe dir dein Strickzeug, das Handy, den Geldbeutel und alles was du brauchst hier in das Beistell-Schränkchen gelegt. Falls ich mal nicht da bin, denk daran, du hast alles was du brauchst!“ Moni nickte dankbar und genoss die Nähe ihrer Tochter. Da rief Kim voller Energie: „Platz da, nun gibt es das leckerste Essen von Innsbruck.“ Die Mädchen kicherten und Moni war gespannt. Sie sah den Matschbrei und verzog angewidert ihr Gesicht.
„Ihhhgitttigitt, was ist das denn?“
Käthe schenkte den schon lauwarmen Tee in eine bunte Gute-Laune-Tasse ein und half ihrer Mutter, einen Schluck zu trinken. Da spürte Moni, was für ein schönes Gefühl es war, zu trinken. Einen Geschmack im Mund zu haben, wie traumhaft. Das Schlucken war jedoch noch äußerst schmerzhaft, was aber nicht außergewöhnlich war, das kam von der künstlichen Beatmung. Mit der linken Hand konnte sie nun selbstständig mit dem Löffel den Brei essen. Selbst der Haferschleim schmeckte ihr gut. Aber wie erwartet wurde sie auch davon wieder sehr müde. Sie hatte noch so viele Fragen, doch sie schlief im Sitzen ein.
Käthe war schon sehr früh zu Bett gegangen, der Tag war aufregend, schön und gleichzeitig anstrengend gewesen. Kim musste zu ihrer Mutter nach Hause. Leider konnten sie sich erst nächstes Wochenende wieder sehen.
Moni schlief bis zum nächsten Morgen und auch Uwe konnte nach langer Zeit acht Stunden am Stück schlafen.
***
Olga hörte man schon früh durch das Haus geistern, sie summte ein russisches Lied und war heute gut gelaunt. Mit ihrem schrägen Gesicht, den roten Wangen und ihrer immer zerzaust wirkenden Frisur, war sie sicherlich keine Schönheit. Dennoch musste man das dünne, sehr schüchterne Mädchen lieb haben. Rita nahm sie in den Arm, sagte zärtlich: „Du kannst es gar nicht abwarten bis deine Freundin wieder kommt, was? Ich freue mich, dich so glücklich zu sehen.“ Olga nickte. Die beiden Frauen hatten wie immer viel zu tun.
Georg, Rita und Franz hatten zusammen mit Max, Tina und Karl neue Wochen-Arbeitspläne erstellt. Montags und freitags würden Rita und Olga über die Wintermonate für alle kochen. Heute war der erste Tag, es gab ungarische Gulaschsuppe und selbst gebackenes Bauernbrot. Olga achtete darauf, dass eine große Portion für Käthe übrig blieb. Diese hatte ihr telefonisch mitgeteilt, dass sie mit dem Bus nach Montan fahren würde. Die Ankunft würde um 16 Uhr sein. Olga hatte ihr versprochen, sie an der Bushaltestelle abzuholen. Das Mädchen ging in Käthes Zimmer, öffnete das Fenster und kramte den Staubsauger heraus.
Nun hatte Olga noch eine Stunde Freizeit, diese verbrachte sie in ihrem eigenen Zimmer. Zusammen mit Georg hatten sie es nach Olgas Wünschen eingerichtet. Georg hatte darauf bestanden, dass sie im Zimmer einen Wasseranschluss und ein Waschbecken hatte. In erster Linie war es ihm wichtig, dass sich Olga auf ihrem Zimmer waschen konnte, ohne durch das Haus laufen zu müssen. Sogar einen Duschvorhang hatten sie angebracht, hier konnte sie sich das ängstliche Mädchen verstecken, wenn sie Kleidungsstücke auszog. Obwohl sie das Zimmer alleine bewohnte. Zusätzlich hatte er eine kleine Ablage gebastelt. Darauf waren ein Wasserkocher, Tassen, Schüsseln und Besteck. Auch das war Georg wichtig, dass sie sich jederzeit ein Heißgetränk oder eine Instant-Suppe zubereiten konnte, ohne extra dafür in die Küche zu müssen.
Ein großer, alter Radio-CD-Player mit einem kleinen integrierten schwarz-weiß Fernseher stand auf dem mächtigen Tisch, zwei Holzstühle und noch einen großen grasgrünen Ohrensessel. Außerdem gab es natürlich ein Bett, einen schönen Bauern-Kleiderschrank und ein großes Regal voll mit Büchern, Stiften und Notizheften. Sie hatte viele Blumen an ihrem Fenster stehen und konnte auf einen kleinen Balkon gehen. Von hier ging der Blick über den gesamten Hof. Olga war zufrieden, mehr brauchte sie nicht.
Nachts plagten sie manchmal noch schreckliche Alpträume, dann kamen die Dämonen. Georg war in solchen Momenten für sie da und hörte zu. Doch solche Nächte wurden glücklicherweise immer seltener.