Da stand es, das Mädchen aus der Ukraine, lächelnd, scheu und gleichzeitig froh, als der Bus um die Ecke kam. Zusammen mit drei weiteren Personen stieg Käthe aus, sie war erledigt, man sah es ihr an. Als die Mädels sich sahen, freuten sie sich gleichermaßen und fielen sich in die Arme. Beide sagten aber kein Wort. Da es stark regnete, verzog Käthe das Gesicht, darauf meinte Olga ganz stolz: „Da hinten hat Georg sein Auto geparkt, bei dem Wetter wollten wir dich nicht laufen lassen.“ „Das ist ja total lieb von euch, danke schön.“ Käthe war erleichtert, sie wollte nur noch ihre Ruhe haben. Olga nahm ihr den Rucksack ab und sie fuhren auf den Hof. Das freudige Gebell von Aaron war nicht zu überhören, Franz winkte aus seiner Raucherecke neben dem Stall. Käthe stieg aus, vernahm den üblichen Bauernhof-Geruch und fühlte sich sofort geborgen.
Rita hatte Kuchen gebacken, Tee und Kaffee zubereitet. Gemütlich saßen allesamt in der großen Wohnküche zusammen. Jeder erzählte von den letzten Tagen, nur Käthe nicht, sie fühlte sich erschöpft. „Ich möchte mich gerne ausruhen, es war so ein anstrengendes Wochenende.“ Sie gab Olga das kleine Mitbringsel, welches Uta extra für sie besorgt hatte. Es war ein Geschichtsbildband von ihrer schwäbischen Heimat, verfasst in der ukrainischen Sprache. Olga war fassungslos.
„Wie bitte? Für mich? Oh, danke, vielen lieben Dank.“
„Irgendwann zeige ich dir alles in echt.“ Danach ging sie hoch in ihr Zimmer. Aaron kläffte und sprang hinterher. Sie fühle sich daheim angekommen und freute sich auf die nächsten Tage und Wochen. Ziegenkäse stand auf dem Programm, das hörte sich spannend an.
***
Sanft schwebte sie über die Fluss-Landschaft, daneben grüne Wiesen, die Sonne schien von einem blauen, wolkenloser Himmel. Hier und da zwitscherten ein paar Vögel. Frei und glücklich lächelten sie sich an, immer noch frisch verliebt, auch noch nach zehn Jahren, sie waren füreinander geschaffen. Ab und zu legten sie kleine Pausen ein, tranken einen Schluck Wasser oder schauten nach dem Weg. Küssten sich sanft und dann wieder wild. Sie stiegen auf ihre Pedelecs und radelten weiter. Doch ER wurde immer schneller und schneller, sie konnte ihn schon fast nicht mehr sehen, sie schrie nach ihm, verzweifelt suchend flog sie beinahe vom Rad. Dann war er wie vom Erdboden verschluckt. Sie weinte, sie schrie, spürte etwas Kaltes auf ihrem Gesicht.
„Frau Häberle, hallo!“ Eine vertraute Stimme. Moni öffnete die Augen, da stand der freundliche Arzt vor ihr. In der Hand hielt er ein feuchtes, kühles Tuch. Behutsam wischte er ihr damit über die Stirn. Sie spürte die Hitze in ihrem Gesicht, fragte leise nach: „Was, was ist? Wo ist mein Mann? Hab ich Fieber?“ „Sie hatten wohl einen sehr schlimmen Alptraum. So wie es scheint, leider auch leichtes Fieber. Es tut mir so Leid wegen ihrem Mann. Ich...
Wir müssen jetzt die Blutwerte und die Wunden kontrollieren.“
Langsam kullerte eine Träne an Monis Wange entlang. Uwe wischte sie vorsichtig weg. Er suchte nach tröstende Worte, fand jedoch keine passenden, drückte stattdessen Monis Hand.
„Bitte, können Sie mich in den Arm nehmen?“, flüsterte seine Patientin. Er reagierte fast zu schnell, legte sich halbwegs zu ihr auf das Bett und suchte nach einer Möglichkeit, zwischen den Verbänden eine gute Stelle zu finden, um Moni in den Arm zu nehmen. So lagen sie fast eine halbe Stunde.
„Ich bin Uwe und immer für dich da“. Sie war beinahe eingeschlafen, er aber musste los. Moni fühlte sich ein wenig besser. Sie brachte sogar ein Lächeln zustande.
„Und ich Moni, danke.“ Dabei streichelte sie mit ihrer linken Hand über die Wange des attraktiven Arztes. Es fühlte sich gut und richtig an.
„Ich muss jetzt zur Visite und für dich kommt gleich die Physiotherapeutin. Bis später. Bald haben wir die Ergebnisse und wissen woher das Fieber kommen könnte.“ Uwe ging ins Arztzimmer und wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser.
Die Whiskeyflasche hatte der Arzt seit einer Woche nicht mehr angerührt. Jetzt nahm er sie und warf sie in den Müll.
***
Die Tage verliefen alle gleich. Schlafen, Pflege, verschiedene Muskel- und Bewegungsübungen, erste Gehversuche mit den Krücken. Essen, Trinken und ausruhen. Moni hatte inzwischen den Umgang mit Ihrem Smartphone mit nur einer Hand gelernt. Jeden Tag hatte sie Kontakt zu ihren Geschwistern und den Töchtern. Im Video-Chat konnte sie ihre fröhlichen Enkelkinder sehen. Sie würde so gerne wieder stricken, aber leider ging das mit der verletzten Hand immer noch nicht. Draußen wurde es täglich früher dunkler und trüber, es war Herbst geworden. Manchmal fragte sie sich, wie sie ein Leben ohne ihren geliebten Herbert haben könnte. Wollte sie das überhaupt? Dann stellte sie alles in Frage, war depressiv und lethargisch. Manchmal weinte sie um ihre verlorenen Zehen, gleichzeitig war es ihr egal.
Uwe war ein wunderbarer Mensch und für Moni ein sehr lieber Freund geworden. Wann immer er Zeit fand, verfrachtete er seine Patientin in den Rollstuhl und fuhr mit ihr nach draußen an die frische Luft. Zeigte ihr die umliegende Bergwelt und erzählte viel von Montan. Oft saß er abends neben ihrem Bett und starrte in die Dunkelheit. Sie fragte nichts, war einfach nur froh, nicht alleine zu sein. Immer wieder nahm sie dankbar seine Hand. Seine Nähe und liebevolle Wärme zu spüren, tat ihr unheimlich gut.
Mit Nicole, der guten Fee der Klinik, hatte sie ebenfalls eine Art Freundschaft geschlossen. Manchmal lachten sie sogar richtig laut. Dann war es ihr sofort peinlich und sie bekam ein schlechtes Gewissen.
***
Auch im Schwabenländle war der Alltag eingekehrt. Die Traurigkeit sah man der Familie noch an, aber so war der Lauf des Lebens. Man hatte sich damit arrangiert. Was blieb ihnen auch anderes übrig? Lina und die Kinder packten ihre Koffer und die kleinen Rucksäcke mit den wichtigsten Kleider und Spielsachen. Dazu noch viele Geschenke und Bilder für die Oma. Das erste lange Wochenende in Montan und Innsbruck stand bevor. Es waren Herbstferien und alle freuten sich sehr. Lina traute sich die lange Autofahrt nicht zu, daher wollte sie mit dem Zug fahren. Flo brachte sie zum Bahnhof, in Innsbruck wurden sie von Georg abgeholt.
Johann hatte, wie immer, alles organisiert und bezahlt. Lina fragte sich nicht zum ersten Mal, warum Johann das alles machte? Da Lina sehr skeptisch war, suchte sie nach einem Grund und plötzlich dachte sie an eine Art Verschwörung. Dunkle Gedanken machten sich breit, sie bekam furchtbare Angst. Eine Panik-Attacke schlich sich heran, sie suchte nach ihren Medikamenten und nahm schnell eine Bedarf-Beruhigungstablette. Sie wollte doch stark sein! Für ihre Kinder. Diese saßen aufgeregt auf ihren Plätzen, hielten ihr Kuscheltier fest umklammert und schauten beide nach draußen. Es war schließlich ihre erste Reise. Lina hatte ihnen Kekse und Getränke bereitgestellt, dann schloss sie die Augen und schlief ein.
Sie träumte wirres Zeug. Wie immer.