Es war Kim, die zu Moni geschickt wurde. Gemeinsam entschieden sie, dass es Zeit war, die Haare zu waschen. Die fröhliche Kim plapperte munter drauf los, fragte dies und jenes. Moni erwähnte zum Schluss ihre Kopfschmerzen, die jetzt nach dieser Aufregung und der Anstrengung der Pflegeaktion stärker wurden. „Ich schau mal, ob ich einen Arzt finde, einen kleinen Moment“. Es gefiel ihr sehr gut, dass Käthe so ein nettes Mädel kennen gelernt hatte.
Um sich abzulenken, nahm sie ihr angefangenes Strickwerk und übte das Halten der Nadeln. Es war immer noch mühsam, auch ein wenig schmerzhaft, doch ein paar Runden konnten sie stricken. Mit den Krücken lief sie im Zimmer auf und ab, schaute dabei aus dem Fenster. Die Berge hatten inzwischen weiße Zipfelmützen, ein Winter in Innsbruck würde ihr bevorstehen. Der Gedanke gefiel ihr ausgesprochen gut. Sie fühlte sich sehr gut aufgehoben. Erschöpft legte sie sich zurück ins Bett und schloss die Augen. Sie dachte ernsthaft darüber nach, wie es wäre hier in Österreich in dieser grandiosen Bergwelt zu leben. Die Entfernung zu ihrer Heimat half ihr bestimmt dabei, ihren Herbert nicht jede einzelne Sekunde zu vermissen.
Sie wunderte sich, dass sie bis jetzt nur wenig von ihrem Chef aus der Firma gehört hatte. Vor zwei Wochen kam lediglich eine Genesungskarte mit einem Strauß von Fleurop. Nie wieder würde sie in ihre alte Arbeitsstelle zurückkehren. Das stand für sie fest. Sie würde ab jetzt ihr Leben umgestalten.
Es war viel zu kostbar, um es mit Idioten und Stress zu verbringen.
Die Physiotherapeutin kam und half ihr bei den Gehversuchen. Sie durfte ab heute den rechten Fuß belasten. Die Spezialschuhe waren angekommen. Als Moni auf stand, um diese anzuprobieren, wurde ihr schnell schwummrig. Fast wäre sie dabei umgefallen. „Haben Sie heute noch nichts gegessen?“ „Nö, keinen Hunger.“
Wieder ging die Tür auf, Kim und eine weitere junge Schülerin traten aufgeregt ins Zimmer. „Frau Häberle, Sie müssen umziehen. Wir benötigen dieses Zimmer für die Überwachung von schwerverletzten Personen.“ Zu viert luden sie Klamotten, Taschen und sämtliches Hab und Gut auf Monis Krankenbett und schoben es den langen Flur in Richtung Cafeteria. Sie humpelte langsam mit ihren Krücken hinterher. „Wo ist eigentlich der Rollstuhl?“ „Den bringen wir Ihnen gleich. Wir holen gleich auch noch alle Sachen vom Bad und ihren Beistelltisch, keine Sorge, wir vergessen nichts“. Übermüdet und gestresst setzte sich Moni auf das Bett. Hier war der Ausblick auf die Berge noch schöner. Das Zimmer war um einiges kleiner, doch es war gemütlich eingerichtet und lag direkt gegenüber von Chefarzt Dr. Ortners Arbeitszimmer.
Als endlich Ruhe eingekehrt war, schlief sie mit den Kopfschmerzen ein.
***
Käthe kam mit gepacktem Rucksack, ihrem Klarinettenkoffer und Aaron im Schlepptau, die Treppe herunter gesprungen. Sie musste sich beeilen, damit sie den Bus nach Innsbruck noch erwischte. Max würde sie bis zur Bushaltestelle fahren. Über Nacht hatte es ca. zwanzig Zentimeter geschneit, doch Käthe hatte keine Zeit, sich über Schnee zu freuen. Sie war in Eile, denn sie wollte so schnell wie möglich zu ihrer Mutter, zur Tante und natürlich zu Kim. In der Küche fand sie eine entsetzt dreinschauende Rita. Olga stand neben ihr, Tränen liefen dem Mädchen übers Gesicht.
„Was ist denn nur passiert?“
Rita erzählte von dem schrecklichen Unfall in Innsbruck. Georg würde nicht wie geplant auf den Hof kommen. Sie wusste nicht, wie sie das alles schaffen sollten heute. Tina war den ganzen Tag in der Praxis, Max war mit dem Schneepflug schon seit den frühen Morgenstunden unterwegs. Karl kümmerte sich um Pferde, Ziegen und Hühner. „Ich muss Franz bei den Kühen helfen. Sorry, doch heute bleibt die Küche kalt.“ Gestresst zog sie ihre warmen Stiefel an, schnappte sich den dicken Parka und stapfte hinüber zum Stall. Die Mädchen bleiben zurück und schauten sich an. Olga hatte ihren Blick gesenkt.
Käthe nahm Olgas Hand, „Tja, Ich denke, ich bleibe lieber hier und helfe euch, oder?“ Olga nickte, „Das wäre aber sehr schön, danke liebe Käthe.“ Die Mädchen sahen auf Ritas Essensplan, dass sie für heute einen deftigen Eintopf geplant hatte. Käthe zog sich um, wusch sich die Hände und Aaron sprang kläffend hinter ihr her. Schnell gab sie ihrer Mutter Bescheid, sie solle Uta und Otto einen lieben Gruß ausrichten. An Kim schrieb sie die Nachricht: Wir sehen uns erst Morgen, ich freue mich schon.
Sie erhielt sofort die Antwort: Ich freue mich auch schon, wegen dem schrecklichen Unglück muss ich möglicherweise durch arbeiten.
Anschließend band sich Käthe ihre Schürze um. In der Küche begann sie kiloweise Gemüse klein zu schnippeln, während Olga putzte, das Geschirr spülte, den Tisch säuberte und ihn gleich deckte. Zur Mittagszeit kamen Lara und Linus aus dem Kindergarten. Nach dem Essen würden sie den Schnee genießen.
***
Der Schweiß tropfte ihm wie ein Rinnsal von der Stirn. „Abtrocknen! Abtrocknen!“, brüllte der sonst ruhige Chefarzt. Seine Stimme überschlug sich fast. Er war stinkesauer. Soeben hatten sie eine junge Frau verloren. Sie war unter seinen Händen verblutet. Sie war unter dem LKW Reifen zerquetscht worden, wie eine Tomate. Victor hob die Hand, er laut rief: „Exitus! Exitus! Abholen!“ Dann rannte der Oberarzt blutüberströmt hinaus.
Ein weiterer Schwerverletzter wartete auf der Trage nebenan. Dieser Mann hatte eine Kopfverletzung, er starrte Uwe mit offenen Augen an. Vorsichtig tätschelte er mit der Hand an seine Wangen. „Hallo! Hallo, können Sie mich hören? Schauen Sie mich an!“ Doch der Verletzte verlor sein Bewusstsein, seine Notfallmannschaft war bereit und schob ihn in den vorbereiteten Operationssaal. Von weitem sah er, wie Georg mit einem Defibrillator hantierte. Uwe behielt wie immer ganz professionell einen kühlen Kopf. Nach acht anstrengenden Stunden setzte er sich zum ersten Mal an diesem Tag auf einen Stuhl, trank eine Flasche Cola aus. Am Wasserhahn neben dem OP steckte er seinen Kopf unter das eiskalte Wasser. Anschließend zog er sich frische Kleidung an. Freundlich dankte er seinem eingespielten Team und den beiden Assistenzärzte, sie hatten einen hervorragenden Job gemacht.
Unten am Kiosk kaufte er einen doppelten Espresso und ein Käsesandwich. Damit bewaffnet setzte er sich draußen an der frischen, kalten Luft auf eine Holzbank. Während er hastig das Essen verschlang, checkte er sein Handy. Es zeigte sieben neue Nachrichten, drei verpasste Anrufe und eine Sprachnachricht. Sie war von Moni, daher öffnete er diese zuerst: Hallo mein Chefarzt, ich wohne jetzt gegenüber von dir. Bitte bringst du mir eine Kopfschmerztablette mit wenn du Zeit hast und die armen Menschen versorgt sind.
Als er ihre Stimme hörte, lächelte er gleich. Er telefonierte mit dem Hausmeister, denn heute kam der Umzugswagen mit den Möbeln vom Haus am Achensee. Dafür hatte er nun überhaupt keine Zeit. Zur Not müssten sie den Lastwagen bis morgen hier stehen lassen. Er lehnte seinen Kopf zurück, starrte in den wolkigen dunklen Himmel. Zuletzt schloss er für einige Minuten die Augen.
Otto steuerte das Wohnmobil langsam auf den Parkplatz des Klinikgeländes. Die erste längere Reise mit dem neuen Vehikel hatte beide begeistert. Uta konnte nun auch ihre drei Hunde mitnehmen. Die Bolonkas schliefen friedlich in ihren Körbchen. Beim Aussteigen sahen sie einen Mann in dem Umzugswagen wild mit den Händen fuchteln. Dabei drückte er pausenlos auf die Hupe. Scheinbar wollte er genau hier parken. Otto fuhr schnell ein paar Meter weiter und hoffte, hier wäre das Parken ebenso erlaubt.
Durch das Gehupe wurde Uwe aufmerksam und entdeckte den Möbelwagen sowie Monis Schwester. Schnell rannte er zurück in die Klinik. Er hatte überhaupt keine Zeit, keine Minute, nicht mal eine Sekunde, leider. In der Zwischenzeit wurden die Verletzten an die Überwachungsmonitore angestöpselt und in Intensiv-Krankenbetten umgelagert. Alle drei hatte man in Monis ehemaliges Zimmer geschoben. Uwe begab sich direkt ins Besprechungszimmer. Hier warteten Victor, Georg, die beiden Assistenzärzte zusammen mit Nicole, Kim und Schwester Maria. Sie besprachen und dokumentierten die Geschehnisse bis zum Eintreffen der Polizei, um ihnen einen ausführlichen Bericht abgeben zu können. Georg verabschiedete sich, er war todmüde und das sah man ihm auch an. „Wir telefonieren morgen, danke für deine Hilfe, Pa.“
Georg wollte ursprünglich sofort nach Montan fahren, doch er fühlte sich schlapp und zittrig. Da er kaum geschlafen hatte, legte er sich auf die schmale Pritsche im Arztzimmer. Er gab Rita Bescheid, dass er erst spät am Abend auf dem Hof eintreffen würde. An ihrer Stimme erkannte er die Enttäuschung. Aber er schlief sofort ein und träumte von Moni, wie sie zusammen im OP standen und operierten. Völlig verrückt.