Der Wecker schrillte laut und erbarmungslos, da klopfte es auch schon an der Tür. Käthe fühlte sich immer noch nicht richtig wach. Uwe streckte seinen Kopf herein und fragte mit seiner angenehmen Stimme „Käthe, bist du wach? Dr. Marowski wartet auf dich.“
„Ja, ich, danke, ähm, ja..., ich komme gleich, ähm, natürlich, danke“, stammelte Käthe im Halbschlaf und sprang schnell auf. Schnappte sich ihre Schachtel Zigaretten und schlappte in ihren Puschen durch die Gänge zum Büro von ihrem Psychotherapeuten. Er erwartete Käthe lächelnd. „Guten Morgen, liebe Käthe, wie wäre es mit einem Kaffee und einem Stück Kuchen? Ich lade dich in die Cafeteria ein“. „Oh ja gerne, kann man da auch rauchen?“ Dr. Marwoski verdrehte die Augen, „Wenn es sein muss, von mir aus“.
Drinnen saßen auch Uwe und Georg an einem großen runden Tisch, sie besprachen die OP des verunglückten Motorradfahrers. Ein Schutzengel wachte wohl über ihm. Er hatte zwar innere Blutungen, hervorgerufen durch einen Milzriss, den die Ärzte jedoch schnell operiert hatten. Ansonsten nur eine Gehirnerschütterung und ein gebrochenes Bein. Er würde bald aus der Narkose aufwachen. Schon morgen konnte er in ein anderes Krankenhaus verlegt werden. Victor war mit den beiden Assistenzärzten noch im OP.
Käthe setzte sich vorsichtig an den Tisch dazu und schaute scheu von einem zum anderen. „Könnt ihr mich nicht leiden, weil ich rauche? Oder stinke ich?“ Dann wurde ihre Stimme hysterisch: „Ich geh auch nie wieder zurück in die Scheiß-Einrichtung, das könnt ihr euch gleich abschminken, ich bleibe hier sitzen, für immer, basta.“ Georg und Uwe sahen sich an und beide runzelten gleichzeitig die Stirn. Da liefen bei dem armen Mädel schon wieder die Tränen und Georg machte das einzig Richtige, er nahm sie in den Arm.
Dr. Marowski brachte eine große Tasse Milchkaffee und ein Stück Obstkuchen. Uwe stand auf. „Ich habe dir versprochen, dass wir uns um dich kümmern und das werden wir auch tun, vertrau uns. Kommst du nachher auf Station? Wir könnten gemeinsam deine Mutter besuchen.“ Käthe nickte schwach, brachte ein zittriges „Ja, danke“ hervor, stand auf, nahm ihren Kaffee und ging auf den Balkon.
Als sie zurückkam, fragte Georg mit feierlicher Stimme: „Möchtest du vielleicht mit auf den Bauernhof in den Bergen kommen? Montan ist nur eine knappe Autostunde entfernt, wir haben dort jede Menge Platz. Du bekommst ein eigenes Zimmer mit Balkon und kannst zur Ruhe kommen. Ebenso kannst du jederzeit mit mir reden und zweimal pro Woche hast du deinen Termin hier in der Klinik. Selbstverständlich kannst du auch jederzeit deine Mutter besuchen. Überleg es dir. Ich fahre morgen Abend zurück.“
Käthe schaute ihn lange skeptisch an. „Und was ist der Haken daran?“
Georg überlegte, dann fiel ihm ein, „Wir haben nur abends ein paar Stunden Internet via Satellit, da wir ziemlich abgelegen wohnen, aber ich denke das ist kein Problem für dich?“
„Mhmm, ich denk da mal drüber nach, gibt es in dem Dorf ein Orchester?“ Georg schüttelte den Kopf, „Leider gibt es nur den Posaunenchor der Kirche. Im Nachbarsdorf gibt es eine Blaskapelle. Aber du kannst jederzeit hier in Innsbruck sein und in einem Orchester spielen.“
Gemeinsam mit Dr. Marowski erstellte Käthe einen Plan, was sie mit ihm in den kommenden Therapiestunden besprechen und erarbeiten wollte. Sie konnte derzeit keine klaren Linien ziehen oder Prioritäten setzen und war dankbar über jede Hilfe. Mit einem Bedarfsmedikament in der Tasche ging sie in Richtung Station K1.
Monis Anblick hatte sich leider überhaupt nicht verändert. Im Gegenteil, ihr komplettes Gesicht war inzwischen grün-rot-lila-pink-gelb gefleckt und immer noch ziemlich geschwollen. Lediglich der Schlauch am Kopf fehlte. Käthe blieb nach wie vor an der Tür stehen, sie konnte den Anblick nur von weitem ertragen. „Bekommt meine Mama eigentlich auch was zu essen?“, fragte sie in die Stille hinein. Natürlich wusste sie um die Dummheit dieser Frage an sich.
Doch Uwe grinste und antwortete freundlich wie immer, „Aber klar, deine Mutter bekommt alle wichtigen Nährstoffe und Vitamine derzeit über die Vene. Das nennt man parenterale Ernährung. Kurzfristig und für geschwächte Körper ist das eine sehr gute Lösung.“ Er zeigt Käthe den Schlauch und die Nahrungslösung. „Komm her, Käthe,“ der Chefarzt streckte seine Hand aus und tatsächlich traute sie sich zu ihrer Mutter. Sie nahm ihre linke Hand und streichelte gleichzeitig vorsichtig über ihre langen lockigen Haare, welche inzwischen teilweise fettig, teilweise stumpf und glanzlos sowie vereinzelt mit Knoten übersät und auch schuppig waren.
„Die Haare werden bald gewaschen, geföhnt und gebürstet. Das ist wirklich nicht das Problem.“ Käthe nickte verständnisvoll und müde, sie hatte genug für heute. Sie wollte auch nicht zum gemeinsamen Abendessen gehen, sie fühlte sich nicht in der Lage dazu.
Uwe begleitete sie bis zur Tür, da huschte eine kleine, dünne, lächelnde Gestalt, ganz in Weiß, an ihnen vorbei. Das Größte an ihr war der Kopf, denn hoch oben thronte ein riesiger hochgesteckter Dreadlock-Dutt. In dem süßen Gesicht steckte ziemlich viel Metall und ein Gitarrentattoo erstreckte sich über den Hals. Mit tiefer, rauchiger Stimme stellte sich dieses entzückende Wesen vor.
„Hi, ich bin die Kim“, sie winkte freundlich, schenkte Käthe das süßeste Lächeln auf der ganzen großen Welt und war schnell wieder verschwunden. Käthe blieb stehen und blinzelte. Wow, wer war denn das? Uwe erzählte ihr, dass Kim ihr freiwilliges soziales Jahr absolvierte, um dann schließlich auch Medizin zu studieren. Sie befände sich in der wilden Phase.
Käthe war in ihrem winzigen Zimmer und spielte lediglich zehn Minuten auf ihrem Instrument. Aß das belegte Brötchen vom Vormittag und rannte nochmal schnell auf den Balkon. Danach nahm sie das Medikament, legte sich ins Bett und stöpselte sich ihre Lieblingsmusik in die Ohren. Es war erst 18 Uhr, aber sie war sehr müde, fühlte sich leer und ausgelaugt. Noch während sie an diese Kim dachte, war sie eingeschlafen.
***
Uta und Otto waren endlich wieder zuhause. Ein schwerer Tag ging langsam zu Ende. Eben hatten sie in der Klinik angerufen und sich nach Moni erkundigt. Natürlich auch nach Käthe, diese hatte ihr Handy immer noch aus. Man teilte ihnen den aktuellen Stand der Dinge mit. Bezüglich Käthe sollte die Familie bitte Geduld haben, das Mädchen wäre ganz verstört und bräuchte viel Zeit und Ruhe. Uta ging mit ihren schweren Gedanken früh zu Bett.
Johann war mit seiner Familie in ein Hotel gezogen, er wollte nicht im Haus von den Häberles wohnen. Es war ihm unheimlich. Er hatte wegen dieser Sache einen heftigen Streit mit seiner Frau und auch mit Uta bekommen, aber es war ihm egal. Der Besuch in Innsbruck war für ihn reine Pflichtsache und keine Herzensangelegenheit. So was konnte er nicht, hatte er nie gelernt und wollte er auch nicht! Er hasste Familiengeschichten. Sollte sich doch Uta um alles kümmern. Seine Kinder baten darum, bei Lina, Flo und den Kindern bleiben zu können. Das war ihm gleich recht, dann hatte es im Auto Platz für Uta.
Klara und Herberts Vater saßen mit den Jungs abends noch lange zusammen. Niemand wollte heute alleine sein. Gesprochen wurde immer noch nicht viel. Alle waren sich einig, dass die Wohnung im EG weiterhin die von Herbert und Moni bleiben sollte. Irgendwann würde sich zeigen, wie es um sie steht, sie sollte auf jeden Fall ihr Zuhause behalten und in die Heimat zurückkommen können.