Das Dorfleben gefiel Käthe täglich besser, sie hatte nun ganz freiwillig auch eine Aufgabe übernommen in der Küche. Bereits zwei Hefezöpfe und zwei Käsekuchen hatte sie nach dem Rezept ihrer Tante Uta gebacken. Immer wenn sie draußen beim Rauchen war, suchte sie Franz, mit ihm konnte sie wunderbar reden. Er hörte ihr nämlich zu. Und zwar richtig. Noch dazu war er sehr ehrlich, sagte die Dinge beim Namen. Kurz und knapp.
Ansonsten war sie viel mit Aaron zusammen, abends manchmal auch mit den Frauen im Handarbeitszimmer. Ab und zu genoss Käthe die Zeit alleine in ihrem Zimmer, dann war sie beim chatten mit ihren Internet-Bekannten. Oder sie spielte und übte auf ihrem Instrument. Immer wieder dachte sie an die süße Kim und freute sich auf Freitag. Täglich machte sie kleine Spaziergänge rund um den Hof. Mit Olga hatte sie nur ein wenig Kontakt, doch sie mochten sich jeden Tag ein kleines Stück mehr.
Aber manchmal kamen die Momente, in denen sie sich leer fühlte, als wäre sie nicht von dieser Welt. Wenn sich die Gedanken überschlugen oder sie sich nicht mehr spüren konnte. Wenn imaginäre, große dunkle Wolken in ihr dieses Gefühl der endlosen Traurigkeit auslöste. Sie dafür nicht einmal einen greifbaren Grund kannte. Wenn ihre Depressionen ihr die Lust am Leben nahmen.
Dr. Marowski hatte ihr den Tipp gegeben, dass sie diese Momente schriftlich festhalten sollte, mit Datum, Uhrzeit und ihrer ausgeführten Tätigkeiten bis zu diesem Moment. Zusätzlich sollte sie notieren, was sie an einem solchen Tag gegessen oder auch getrunken hatte, man wusste ja nie. Gleichzeitig sollte sie sich einer Person anvertrauen, persönlich, zur Not auch per Telefon. Sie bräuchte sich nicht zu schämen, wenn in einer solchen Situation nur noch weinen oder schreien helfen würde. Hauptsache raus damit! So hatte es ihr der Psychologe gesagt. Zur Not mussten dann eben die drei Zigaretten geraucht werden.
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Chefarzt Dr. Uwe Ortner genoss den Klinik-Alltag. Das war sein Leben. Seine Patienten, denen er helfen konnte, die Visite, Besprechungen mit dem Personal, Gespräche mit den Angehörigen, Operationen, auch telefonische Beratungen, auch der ganze Schreibkram. Um diesen kümmerte er sich abends, da saß er mit seinem Laptop in Monis Zimmer. Inzwischen standen ein Stuhl und ein kleiner Tisch neben ihrem Bett. Gerne redete er mit ihr, konnte sich nicht erklären, warum sie nicht wach wurde.
Manchmal hörte er laut Monis Musik-Stick, vielleicht würde sie ihre Lieblingsmusik erkennen? Uwe wurde immer wieder aufs Neue überrascht. Gerade eben noch trällerten die Abba-Sängerinnen den Superhit Ring Ring, Sekunden später röchelte die Stimme des Sängers von den Onkelz das Lied Danke für nichts, danach folgte der Song There is a Party von DJ Bobo und Blümchens Sommerhit Herz an Herz. Uwe schüttelte grinsend seinen Kopf.
Auf Susan war er nicht gut zu sprechen. Noch immer hatte sie ihm nicht gesagt, was los war. Zwei Nachrichten hatte er ihr geschickt, mit der Bitte um ein Gespräch. Nur Ausreden kamen als Antwort. Uwe wollte noch bis Samstag warten, da hatte er seinen freien Tag. Vielleicht würde er dann den Schritt machen und diese Beziehung beenden.
Doch so lange musste er nicht warten.
Die Mittagspause war gerade vorbei. Uwe ging zusammen mit Kim zurück zur Station. Sie hatten über Käthe und ihrer Mutter gesprochen. Kim hatte sich ihm anvertraut, dass sie sich am Freitag privat treffen würden, ob das in Ordnung wäre. Da Kim noch nicht lange hier in der Klinik war, konnte er bei diesem Gespräch viel über sie erfahren. Ihre Mutter war sehr krank. Abwechselnd mit ihrem Bruder übernahm sie die Betreuung. Der Vater war schon lange an Krebs gestorben, vielleicht wollte sie deshalb unbedingt Medizin studieren.
Uwe freute sich sehr darüber, dass Käthe, das schüchterne Mädel, tatsächlich schon Freundschaft geschlossen hatte. Dass es sich um eine Verliebtheit handeln könnte, auf diese Idee kam er natürlich nicht. Noch nicht.
Maria kam gerade aus dem Labor und gesellte sich zu den beiden. Es war Donnerstag, an diesem Nachmittag stand die wöchentliche Hauptbesprechung an. Die Fahrstuhl-Türe öffnete sich, Maria erzählte gerade einen Witz, als Uwe von weitem sah, wie Susan aus der Herrentoilette am anderen Ende des Gangs heraus huschte und schnell davon lief. Er blieb stehen und runzelte die Stirn. Maria und Kim blieben ebenfalls stehen. Auch sie starrten in die Ferne, als die Tür nochmals auf ging und Peter heraus trat.
Dr. Peter Wahl. Sein Oberarzt.
Dieser schaute sich vorsichtig um, wollte genauso schnell davon rennen, da sahen sich die beiden Herren direkt ins Gesicht. Peter blieb wie angewurzelt stehen. Uwe hob die Hand, öffnete den Mund.
Verwirrung.
Seine Stimme versagte, die Knie wurden weich und er spürte Schweiß auf seiner Stirn. Maria hakte sich bei Kim unter und zog sie zurück in den Fahrstuhl.
Als Uwe seine Stimme wieder gefunden hatte, brüllte er so laut wie noch nie in seinem Leben. „RAUS!!!“
„Hau ab, raus hier, aber sofort!“ Seine Handbewegungen wurden immer schneller, so als wolle er ein ekliges Tier aus einem Zimmer vertreiben.
***
Klara war oft bei ihrem Vater. Dieser hatte sich immer noch nicht von dem Schock erholt. Lethargisch saß er den ganzen Tag entweder auf der Couch oder draußen auf der Holzbank vor dem Haus. Wie gut, dass es Mohrle gab. Die Katze war schon 18 Jahre alt und immer an seiner Seite. Herberts Söhne waren ebenfalls noch in tiefer Trauer, auch sie besuchten ihren Opa täglich, brachten ihm das Essen oder saßen schweigend bei ihm.
Klara wollte am kommenden Wochenende mit Uta und Otto nach Innsbruck fahren. Genesungswünsche in Form von Blumen, Karten und Geschenke stapelten sich schon. Die ganzen Sachen wollten sie gerne an Moni übergeben. Gemeinsam hatten sie sich um die Wohnung der Häberles gekümmert, geputzt, gelüftet, den Kühlschrank ausgeräumt und sie hatten viel geweint. Jetzt hatten sie die Hoffnung, dass diese endlich aufwachen würde. Alle waren sehr besorgt darüber.
Paul hatte für Käthe nochmals Geld und wichtige Dokumente an Uta übergeben. Falls sie tatsächlich in Österreich bleiben würde, müsste sie sicherlich noch viel Bürokratie hinter sich bringen. Gerade als sich Uta verabschieden wollte, klingelte ihr Smartphone. Auf dem Display stand Klinik Innsbruck.