Die Tür zu Monis Krankenzimmer stand offen, Uwe wagte eine schnelle Inspektion des Raumes. Käthe hatte sich viel Mühe gegeben. Alles war liebevoll vorbereitet. Zusammen mit einem der Assistenzärzte ging er zu Frau Häberle, kontrollierte die aktuellen Daten und Werte. Mit der Sonde wurde der Hirndruck gemessen, auch dieser Wert war in Ordnung. Schwester Maria tauchte auf, dann kam der große Moment. Uwe schaltete das Beatmungsgerät ab, alle Anwesenden überwachten Monis Reaktion, nach ein paar Sekunden hustete sie und tatsächlich setze die Spontanatmung ein. Blutdruck und Puls stiegen dadurch kräftig an und mussten nun besonders gut beobachtet werden. Der Chefarzt schickte eine weitere Blutprobe in das Labor, er machte sich Sorgen um die Zehen. Das sah nicht gut aus. Er würde morgen Victors Meinung einholen.
Für die kommende Nacht ordnete der Chefarzt eine stündliche Dokumentation der Vitalparameter an, ebenso eine letzte Pflege aller Katheder und Zugänge. Er selber konnte jederzeit auf die Monitore über sein Pad zugreifen. Maria nickte, lächelte Uwe zu und meinte: „Heidi hat heute Nachtdienst, gemeinsam kümmern wir uns später um die Intensivpflege, wir machen die Dame für das Aufwachen frisch und hübsch.“ Moni hatte nun bis Samstag Mittag Zeit, zurück ins Leben zu finden. Uwe verringerte nochmals die Dosis des Narkosemittels, dann ging er in sein Büro, es war kurz vor 20 Uhr und jede Menge Schreibkram wartete auf ihn. Weit nach Mitternacht schlief er auf der schmalen Pritsche in seinem Zimmer erschöpft ein.
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Es war Freitag, Käthes erster Tag auf dem Hof. Sie hatte tatsächlich wieder zwölf Stunden durchgeschlafen, mit Klamotten, in einem fremden Bett und noch dazu in einer fremden Umgebung. Kaum zu glauben, aber sie fühlte sich heute endlich fit. Voller Neugierde ging sie hinunter Richtung Küche. Dort brannte schon Licht und es duftete nach Kaffee, frischer Milch und irgendwie nach Stall. Rita, Olga und Franz saßen bereits am Frühstückstisch. „Huch, seid ihr alle aus dem Bett gefallen?“ Begrüßte Käthe die kleine Gruppe. „Guten Morgen, setz dich doch, hoffe du hast gut geschlafen? Möchtest du Kaffee, Tee oder Kaba?“
Käthe war über so viel Elan und Freundlichkeit um diese Uhrzeit sehr überrascht und fragte ganz leise: „Muss ich ab jetzt immer so früh aufstehen?“ Franz kaute mit offenem Mund und nickte, ein schwaches Grinsen huschte über seine Lippen. Georg stand inzwischen an der Tür. „Fühl dich wie im Urlaub, du musst die nächsten Tage gar nichts! Wir alle möchten, dass du dich erholst, zur Ruhe kommst. Versuche dich hier auf dem Hof ein wenig einzuleben.“
Rita und Olga führten Käthe durch das Haus, zeigten ihr alle Zimmer und erklärten ihr den Tagesablauf. Das gemeinsame Mittagessen um 12:30 Uhr war ein wichtiges Ritual, an dem sie bitte teilnehmen solle. Einmal wöchentlich wurde ein Arbeitsplan erstellt. Beides wurde zusammen mit dem Wagner Hof durchgeführt. Man half sich gegenseitig. Später kamen Georg und Franz und nahmen sie mit nach draußen. Georg hatte für Käthe Gummistiefel, Handschuhe, Regenjacke sowie einen warmen Parka besorgt. Neben der Wohnküche gab es einen Umkleideraum mit Waschgelegenheit und ein WC, hier standen Hausschuhe für Käthe bereit und eine Art Schürze. „Denk daran, wir haben hier eine Milchwirtschaft und achten sehr auf Sauberkeit und Hygiene. Bitte nie ohne zu waschen und umziehen vom Stall in die Küche“, meine Georg. „Ey ey Käpten,“ salutierte Käthe. Dann ging sie endlich eine Zigarette rauchen und traf wieder auf Franz, Aaron sprang kläffend herbei und lies sich von ihr kraulen.
Normalerweise würde Käthe jetzt mit ihrem Handy oder Laptop am Schreibtisch sitzen, malen oder schreiben, telefonieren oder chatten. Sie würde sich überlegen, wann und was sie auf ihrem Instrument spielen würde. Doch nun stand sie hier im Dreck mit Gummistiefel an den Füßen, streichelte einen Schäferhund, hatte den Geruch von Tier und Stall in der Nase, rauchte gemeinsam mit einem fremden Mann. Dabei schaute sie den Kühen zu, wie sie faul auf dem Boden lagen und kauten.
Olga rief Käthe zu sich, sie wollte mit ihr zum Nachbarhof, da gab es noch viel mehr zu entdecken. Aber - Pferde, Ziegen, Hühner, ach das war nicht wirklich was für Käthe. Und die Kinder erst recht nicht, um Gottes Willen, diese nervige, schreienden, kleine Menschen. Hoffentlich erwartete niemand von ihr, dass sie eine Art Babysitter würde. Tina war eine fröhliche, sehr hübsche Frau, die ihrem Bruder zum Verwechseln ähnlich sah, nur eben weiblicher. Käthe mochte sie sofort. Sie gingen zu den Welpen, die aussahen wie kleine Eisbären und Mädel aus dem Schwabenland war sofort schockverliebt. So etwas Süßes hatte sie noch nie gesehen. Auch Max kam herbei und begrüßte Käthe ebenfalls. Er war ein attraktiver, großer starker Mann mit langen dunklen Haaren, dazu hatte er sehr markante Gesichtszüge. Käthe dachte sofort an einen Indianer, lächelte ihn an und sagte sehr laut „Wow“.
Tina und Olga sahen sich an und runzelten die Stirn. „Hey, das ist schon mein Mann“, Tina gab Max lachend einen leichten Klaps auf den Hintern.
„Oh, keine Sorge, ich mag Männer zwar ganz gerne, aber ich steh auf Frauen“.
Schockiert trat Olga einen Schritt zurück. Ihr Gesicht lief dunkelrot an. Käthe sah es und meinte nur beiläufig: „Naja, Angst musst du aber nicht vor mir haben.“ Alle lachten, nur Olga war immer noch schockiert.
Nach dem Essen war Käthe endlich alleine in ihrem Zimmer und richtete sich ein. Das Handy hatte sie aufgeladen, ab 18 Uhr gab es Internet. Inzwischen freute sie sich darauf. Sie hatte einige Anrufe in Abwesenheit auf dem Display gesehen. Lina, Tante Uta und Tamara, jedoch wolle sie mit niemandem telefonieren. Aaron bellte, sie ließ ihn herein und kuschelte mit ihm. Dann nahm sie ihr Instrument in die Hand, säuberte liebevoll das Mundstück, erneuerte das Holz- Blättchen und spielte einige Tonleiter – Übungen. Das war ganz schön laut und Aaron wusste nicht, was er davon halten sollte. Er kläffte, aber er blieb und mit geneigtem Kopf beobachtete er aufmerksam, was Käthe da machte.
Olga war ebenfalls in ihrem Zimmer und weinte. Georg hatte das Mädchen beim Mittagessen gesehen und wusste, dass sie jemanden zum Reden benötigte. „Ich, ich... hatte mich auf eine Freundin gefreut. Und jetzt...“, sie stotterte und schluchzte laut, „Sie ist eine lesbische Raucherin!“ Olga war immer noch sehr empört.
Georg blieb ernst, nahm das Mädel in den Arm, versuchte sie zu beruhigen: „Aber Olga, Liebes. Menschen sind unterschiedlich, das weißt du doch. Rauchen ist nicht gesund, ok, und ja, ich weiß, dass du schreckliche Erinnerungen hast und du deswegen sehr empfindlich reagierst. Ihr könnt übrigens trotzdem Freundinnen werden, auch wenn Käthe lesbisch ist. Das ist doch keine Krankheit! Jetzt beruhig dich wieder, komm her.“
Er blieb einfach bei ihr sitzen und streichelte ihr den Rücken.
„Und Kinder mag sie auch nicht.“ Georg musste nun doch schmunzeln. „Das ist doch kein Verbrechen. Sie mag dafür Hunde.“ In diesem Moment erklangen die Klarinettentöne aus dem Nachbarzimmer und als Käthe den beliebten Klarinettenmuckl spielte, beruhigte sich Olga wieder. „Oh, sie macht Musik?“ Das war auch ihre Leidenschaft. Sie konnte zwar kein Instrument spielen, dafür aber singen wie ein Engel. Sie liebte Kirchenmusik und das Orgelspiel.