Am nächsten Morgen ging es bei Moni turbulent zu. Schon um sieben Uhr kamen die Schwestern und der Chefarzt ins Zimmer. Victor hatte Tagdienst, so dass Uwe ein paar Stunden frei hatte. Doch das große Ereignis, ließ er sich nicht nehmen.
„Servus, Frau Häberle,“ gut gelaunt strahlte er seine Patientin an. „Jetzt werden wir sämtliche Schläuche ziehen. Das wird für einen kurzen Moment unangenehm.“ Moni nickte skeptisch, war aber bereit. Endlich erfuhr sie von den fehlenden Zehen, den Frakturen und Verletzungen. Zum Schluss hatte sie nur noch einen Zugang am Arm für weitere Infusionen und einen Schlauch am rechten Bein, da sich hier an der größten Wunde noch Flüssigkeiten sammelten.
Zum Schluss brachte Uwe einen Rollstuhl ins Zimmer. „Heute Abend gehen wir auf große Fahrt, wenn sie das möchten!“
Der Chefarzt verabschiedete sich, Moni winkte ihm hinterher. Jetzt musste sie lernen, wieder selbstständig zur Toilette gehen, natürlich nur in Begleitung. Der erste Versuch war mühselig und schmerzhaft. Als Belohnung gab es ein Früchte-Brei-Frühstück, mit einer halben Tasse koffeinfreiem Kaffee. Ein kleiner, aber guter Anfang. Heute lernte Frau Häberle ihre Physiotherapeutin persönlich kennen, diese hatte schon seit Wochen nach Monis Muskulatur geschaut. Sie musste täglich zwei Mal mindestens eine halbe Stunde trainieren, um alle Muskeln zu bewegen. Man händigte ihr eine Art Wochen- und Stundenplan aus, so dass sie selber einen Überblick über Aktionen, Therapien und Stationsabläufe hatte. In der ersten Woche erhielt sie noch Schonkost. Doch schon ab der nächsten Woche würde sie sich ihre Mahlzeiten selbst auswählen dürfen. Als Moni endlich alleine war, schlief sie schließlich erschöpft ein.
Käthe hatte lange geschlafen und beinahe ihren Termin bei Dr. Marowski verschlafen. Im gemeinsamen Gespräch vereinbarten sie, dass sie trotz der guten Entwicklung weiterhin viel Ruhe benötigte, alle Medikamente nach Plan nehmen sollte. Vor allem musste sie lernen, „Nein“ zu sagen. Käthe war so dankbar, sie fühlte sich willkommen und verstanden. Sie nahm den verblüfften Psychiater zum Abschied sogar in den Arm. Der nächste Termin war am Freitag, sie könne sich aber jederzeit telefonisch oder per E-Mail an ihn wenden.
Vergnügt schaute Käthe bei ihrer Mutter vorbei, da diese aber schlief, gönnte sie sich in der Cafeteria ein üppiges Frühstück und zwei Tassen Cappuccino. Danach deckte sie sich am Kiosk mit Zigaretten und Cola ein. Ihr Onkel Johann hatte ihr gestern einen Hundert-Euro Schein zugesteckt. Noch dazu hatte ihr Tante Uta auch Geld gegeben. Käthe war sozusagen reich. Sie musste darüber schmunzeln.
Mit einem guten Gefühl und der Gewissheit, dass es ihre bis jetzt beste Entscheidung war, hier in Innsbruck zu bleiben, ging sie nach draußen und rauchte drei Zigaretten. Danach lief sie zurück in ihr eigenes Zimmer, packte alles zusammen und räumte auf. Mit ihrem gesamten Gepäck und dem Klarinettenkoffer machte sich Käthe auf den Weg zu ihrer Mutter.
Sie nahm ihre Mutter vorsichtig in den Arm. „Ihhgitt, Käthe du stinkst!“ Dann mussten beide lachen, denn Moni hasste den Geruch von Zigarettenrauch, obwohl sie selber jahrzehntelang geraucht hatte. „Mama, soll ich dir was vorspielen?“ „Oh ja, bitte.“ Während Käthe spielte, schwelgte Moni in Erinnerungen und dann traf es sie mit voller Wucht. Herbert!
„Oh mein Gott, Herbert!“ Es war ein lauter Schrei, ihre Mama fing ganz laut zu weinen und schreien an.
„Herbert?“
„Schatz? Schatz!“
Käthe war geschockt, sie wusste nicht, wie sie am besten reagieren sollte. Völlig starr stand das Mädchen auf, mit der Situation total überfordert. In ihrer Not betätigte sie den Schwestern-Notruf. Schwester Heidi und Oberarzt Victor eilten herbei, verabreichten Moni ein Beruhigungsmittel und blieb so lange im Zimmer, bis sie eingeschlafen war. Käthe bedankte sich, sie war fix und fertig. Der Oberarzt nahm sie mit ins Schwesternzimmer. Dort wurde sie mit Tee und Schokoladenkekse getröstet. Dr. Marowski kam ebenfalls dazu. Sie sprachen über diese unangenehme Situation. Er machte ihr klar, dass sie nicht schuld daran war. Käthe machte sich Vorwürfe, weil Moni durch die Musik so traurig wurde.
Stück für Stück würde Moni das Geschehene und auch den Tod ihres Mannes verstehen und akzeptieren müssen.
Gemeinsam beschlossen sie, dass auch der Pfarrer bei Moni noch einen Besuch machen sollte. Dr. Marowski brachte Käthe zur Bushaltestelle, sie musste nur einmal umsteigen und versicherte, dass sie es alleine schaffen würde. Da ihre Mutter schlief, konnte sie sich leider nicht verabschieden. Während der gesamten Busfahrt telefonierte sie. Zuerst mit Kim, dann mit ihrer Tante. Hoffentlich dachte Olga an ihre Ankunft. Jetzt freute sie sich auf die Ruhe in Montan. Vor allem auf Aaron und die Welpen.
Uwe verbrachte den Tag in der Stadt. Er kaufte Schuhe, eine Winterjacke, noch dazu hatte er endlich einen Termin beim Friseur. Zum Mittagessen traf er sich mit einem Kumpel. Die Sache mit Susan hatte sein Leben und vor allem seine Zukunft verändert. Wenn er nur an diese Person dachte, wurde ihm schlecht. Bei dem Gedanken an Peter, seinem geschätzten Oberarzt, spürte er sogar tiefen Hass. Er wusste bis zu diesem Zeitpunkt nicht, dass er überhaupt so stark hassen konnte. Er konnte sich auch nicht vorstellen, ihn in der Klinik wieder einzustellen. Stattdessen hatte er eine viel bessere Idee. Nachmittags fuhr er mit dem Bus zu Peters Wohnhaus. Frau Wahl öffnete die Tür und er fragte extrem laut: „Na, wie fühlst du dich als betrogene Ehefrau? Hat Peter, das größte Arschloch der Welt, dir hoffentlich alles erzählt?“
Nickend fing die Frau an zu weinen, „Ja, ich weiß alles. Aber ich werde ihm verzeihen!“
Zurück in seinem kleinen Appartement legte er sich auf die Couch und ließ sich vom Fernseher berieseln. Bald würde er in ein Drei-Zimmer Appartement umziehen. Die Wohnungen hier waren neu und modern, so konnte er einen Teil der Möbel vom Haus am Achensee unterbringen. Für das nächste Wochenende hatte er jedoch die Einladung von seinem Freund Thommy angenommen, er würde ihn endlich in Toblach besuchen. Der Chefarzt schlenderte gemütlich zur Klinik und traf unterwegs auf den Hausmeister. Sie wechselten ein paar Worte, heute Abend war die große Hauptversammlung, das hatte Uwe total vergessen.
Auf Station erfuhr er von Schwester Heidi, was in seiner Abwesenheit geschehen war, und besorgt sah er nach Frau Häberle. Diese lag wach in ihrem Bett, starrte an die Decke. Als er das Zimmer betrat, drehte sie noch nicht einmal den Kopf. „Hallo, Frau Häberle, darf ich reinkommen?“ Doch er bekam keine Antwort. Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben das Bett.
***
Klara hatte von Uta alle Neuigkeiten erfahren, sie war so glücklich darüber, dass es wenigstens Moni geschafft hatte. Herbert fehlte ihnen, es verging kein Tag, an dem sie nicht an ihren geliebten Bruder dachte. Sein Vater hatte sich nur langsam erholt, doch es ging endlich aufwärts. Er kaufte wieder selber ein, kochte sich jeden Tag eine warme Mahlzeit. Doch abends trank er bis zu drei Flaschen Wein. Er war 81 Jahre, er durfte das selbst entscheiden. Trotzdem machte sie sich natürlich Sorgen. Seine drei Enkel schauten abwechselnd nach ihm, Axel der jüngste Sohn von Herbert, war in die leerstehende Wohnung im Erdgeschoss vorübergehend eingezogen.
So war Alfred in dem großen Haus nicht ganz alleine und die schöne, renovierte Wohnung wurde geheizt und sauber gehalten.
Lina ging es nun auch wieder besser. Das spürten auch Flo und ihre Kinder. Der kleine Gerhard fragte zwar oft nach seiner Oma, doch er musste nicht mehr weinen. Irene war wohl noch zu klein. Sie verstand nicht, was geschehen war. So kam es, dass die Kleinen wieder vergnügt waren und das Haus mit Lachen erfüllten. Lina und die ganze Familie hatten mit Georg und Käthe vereinbart, dass sie jederzeit mit den Kindern herzlichst auf dem Hof eingeladen sei, so könnten die Enkel ihrer Oma einen Besuch abstatten, sobald ihr Zustand stabil war. Lina hatte am nächsten Wochenende zwei Auftritte mit ihrer Band, sie freute sich auch die Abwechslung.
Johann versprach, sich nicht mehr einzumischen, er konnte die nächsten Wochen aus beruflichen Gründen nicht nach Innsbruck fahren. Niemand war ihm deswegen böse. Sie blieben so oder so alle miteinander telefonisch in Kontakt.