Uwe hatte einen schrecklichen Alptraum gehabt, er war gerade dabei sein Handy zu suchen um Susan anzurufen, als ihm einfiel, wie sehr sie ihn verletzt hatte. Seufzend ließ er es sein. Eine große Traurigkeit überfiel ihn. Er zog seinen weißen Kittel an, öffnete die Bürotür und ging aufrecht mit erhobenem Kopf zu seiner Station.
Moni war noch nicht aufgewacht. Gehirndruck und Hirnströme waren im grünen Bereich, ihre Vitalwerte den Umständen entsprechend in Ordnung. Der Arzt überprüfte nochmals sämtliche Reaktionen. Da es unterschiedlich lange dauern kann, bis Narkosemittel vom Körper abgebaut werden kann sich die Aufwachphase über mehrere Tage hinziehen. Victor kam heute vorbei, um nach den Zehen zu sehen. „Sieht wirklich nicht gut aus. Die beiden Zehen waren zu lange ohne Sauerstoffversorgung. Die erholen sich nicht mehr. Denke, die müssen weg. Was sagen die Blutwerte?“
Uwe blickte ihn mit ernstem Gesicht an. „Die Leukos sind viel zu hoch, auch sonst könnten die Blutwerte besser sein“.
Gemeinsam absolvierten sie die kleine Visite auf Station, bevor Victor wieder ging. Er würde morgen die OP übernehmen, sollte sich der Chefarzt dazu entschließen, zu amputieren. Amputationen fielen in Victors Aufgabenbereich, darin war er der Meister. Uwe verschanzte sich in sein Büro an seinen Computer, telefonierte zuerst mit Georg, danach mit einem gut befreundeten Kollege. Beide teilten die Meinung von Victor, die Zehen müssten weg.
Es war erst 14 Uhr am Mittag, doch Uwe füllte Whiskey ins Glas, trank es in einem Zug leer und schenkte nach. Das wiederholte er viermal. Anschließend schlenderte er ins vorbereitete Krankenzimmer von Frau Häberle, setzte sich auf das Bett und sah sich um. „Tja Frau Häberle, da haben Sie sich wirklich was blödes eingebrockt.“ Er sah den Musik-Stick aus Monis Auto und nahm ihn mit.
Peter, der zweiter Oberarzt suchte bereits nach ihm. Es gab einen ungeplanten Neuzugang. Ein vierzigjähriger Mann mit einem Hirntumor, der inzwischen so groß war, dass er auf das gesunde Gewebe im Großhirn drückte, deswegen war der Patient ins Koma gefallen. Uwe fragte Peter, ob er sich die OP zutraue, er selber wäre heute nicht in der Lage dazu. Der Oberarzt stutzte, als er Uwes Atem roch. Er blickte schnell zur Seite, so als würde er sich schämen. „Ja klar Chef, ich übernehme das.“
„Danke, ich möchte gerne am kommenden Montag mit dir Essen gehen, es gibt etwas zu besprechen.“ Peter drehte sich schnell weg, damit Uwe nicht sein gerötetes Gesicht sah, „Ok, sehr gerne“.
Mit dem Stick in der Hosentasche besuchte Dr. Uwe Ortner nochmals Moni auf der Intensivstation. Er setzte sich auf den Stuhl, nahm vorsichtig ihre Hand und spürte wieder dieses wohlige Gefühl, welches sich in ihm ausbreitete, wenn er diese Frau aus dem Schwabenland berührte. Plötzlich plapperte er munter drauf los. Er erzählte von Käthe, von Montan, von seiner Klinik, von Susan und dass er sich jetzt betrinken werde. Zum Schluss streichelte er über ihr Haar, „Wir müssen das Aufwachen verschieben, erst müssen die Zehen weg. Wir sehen uns morgen.“ Danach erhöhte er die Dosis des Narkosemittels und leitete die künstliche Beatmung wieder ein. Maria kam ins Zimmer und schaute ihn fragend an. Uwe erklärte ihr den Sachverhalt und lief in sein Büro. Er packte die Whiskeyflasche unter seine Jacke, schnappte sein Mobiltelefon und raste hinaus an die frische Luft.
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Lina packte ihren Koffer und überlegte, ob sie sich nun freuen oder doch lieber weinen sollte. Wäre es hier auf dem Hof bei den Kindern nicht besser für sie? Die weite Fahrt nach Innsbruck, sie hasste Autofahren. Eine kranke Mutter, die gar nicht ansprechbar ist und bestimmt noch viele Wochen im Krankenhaus bleiben wird, was sollte sie dort? Sie könnte ihr ja auch nicht helfen. Resigniert legte sich Lina auf das Bett, schimpfte laut und kippte den Koffer wieder aus. Sie würde hierbleiben.
Flo kam zu ihr ins Zimmer, „Was machst du denn? Was ist los?“ Lina weinte nur, sagte nichts. Flo sah ihren starren Blick, rief die Kinder und ging mit ihnen nach draußen zum Spielen. Lina telefonierte mit Uta, teilte ihr den aktuellen Entschluss mit. Ihre Tante Uta war schon auf Käthe nicht gut zu sprechen, jetzt rastete sie wieder aus. „Ihr undankbaren Gören ihr! Ich sag das alles eurer Mutter sobald sie wieder ansprechbar ist“. Lina weinte noch mehr und rammte ihren Kopf mehrmals an die Wand, dabei schrie sie laut und aggressiv Schimpfworte. Irgendwann schlief sie erschöpft ein. Als Flo nach ihr sah, deckte er sie vorsichtig zu, er hatte keine Ahnung, wie er ihr helfen könnte.
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Am Abend saß Käthe an dem kleinen Schreibtisch, sie konnte nun endlich wieder in Ruhe im Internet sein. Dort gab es viele Gleichgesinnte, Freunde und Bekannte in den Foren für Musik- und Orchesterbegeisterte. Sie unterhielten sich in den Chats über neue Lieder, Noten, Musiker und Dirigenten. Es gab spezielle Programme für Musikbegeisterte, über die sich ebenfalls austauschten. Da scharrte es an der Tür und Käthe musste lächeln. Es war Aaron, er hatte wohl einen Narren an ihr gefressen. Der Schäferhund machte es sich auf dem Boden direkt an Käthes Füßen gemütlich, sie hatte dadurch ein Gefühl von Geborgenheit.
Ein paar Mal ging sie auf den Balkon zum Rauchen. Immer in Begleitung ihres neuen Freundes. Georg hatte ihr angeboten, abends ein Gespräch zu führen, doch sie hatte heute keinen Bedarf. Für den Moment war sie zufrieden. Sie fühlte sich auf dem Hof willkommen und angenommen, so wie sie war. Sie wollte heute auch keine Bedarfsmedikamente nehmen. Um Olga würde sie sich morgen kümmern. Noch nie hatte jemand Angst vor ihr. Als Käthe später im Bett lag, schrieb sie folgende Nachricht: Hallo, mir geht es soweit ganz gut. Hoffe euch auch. Ich bin in einem Bergdorf und mache eine Art Reha. Hier gibt es kaum Empfang, es tut mir leid. Viele liebe Grüße.
Sie schickte diese Nachricht an Tante Uta, Lina und an ihren Vater.