Endlich hatte es geklappt. Es würde zwar eine eine Nacht und Nebel-Aktion werden, doch er konnte nun tatsächlich in die drei Zimmerwohnung umziehen. Sein Hausmeister würde den Umzug organisieren.
Uwe schlief in dieser Nacht auf der schmalen Pritsche im Arztzimmer und war nach dem Aufwachen erstaunlicherweise topfit. Das war auch gut so, denn heute stand eine wichtige und geplante OP statt. Ein gutartiger, noch kleiner Hirntumor, ein sogenanntes Meningeom, galt es operativ zu entfernen. Die 57-jährige Patientin wurde gestern aus Kufstein hergebracht. Die Frau hatte Glück im Unglück. Der Tumor wuchs nicht in das angrenzende Hirngewebe. Sie hatte durch das langsame Wachstum eine Beule entdeckt und ist deswegen zum Hausarzt. Dieser reagierte schnell und überwies sie sofort zu einem Spezialisten. Der Chefarzt persönlich würde operieren, die Frau war schließlich eine angesehene Politikerin. Schon in zwei bis drei Wochen würde sie in eine Reha-Klinik wechseln können. Die Prognose war gut, die Patientin würde wieder ganz gesund werden. Die Operation musste jedoch zu 100 % korrekt verlaufen. Uwe sah sich das Röntgenbild und die CT-Bilder noch einmal auf seinem Tablet an, danach drehte er seine Morgenrunde.
Seine beiden Assistenzärzte würden ihn heute unterstützen, Victor hatte noch frei. Maria war bereits mit zwei Schwesternschülerinnen im Operationssaal und traf die notwendigen Vorbereitungen. Er hatte noch eine gute Stunde Zeit, so ging er hinunter zum Bäcker, kaufte drei Butterbrezeln und einen doppelten Espresso und setzte sich damit auf eine Bank im Freien. Es war früh und noch neblig und kalt, doch die frische Luft tat ihm gut. Der Wetterbericht sagte Sonne am Nachmittag voraus. Er aber dachte an die anstehende OP und spazierte einige hundert Meter durch den Park, bevor er wieder zurück auf seine Station ging. In seiner Manteltasche vibrierte sein Handy, von weitem sah er auf dem Display: Frau Moni Häberle ruft an.
Mit einem Lächeln betrat der Arzt das Krankenzimmer von Moni. Doch diese war verzweifelt damit beschäftigt, sich mit den neuen Krücken anzufreunden. Ständig flog ihr eine aus der Hand, was sie zum Fluchen brachte. Ihre Physiotherapeutin redete besänftigend auf sie ein. „Vorsicht, vorsicht. Das wird schon, bitte, Frau Häberle! So lassen sie sich doch helfen! Nicht so schnell aufgeben.“ „So ein riesengroßer Mist. Ich schmeiß die Dinger weg. Ich kann das nicht, ich wills auch gar nicht können! Ich hab gar keine Lust auf so einen Dreck! Ich hab nämlich Schmerzen und gar keine Kraft! Wo bleibt mein Arzt?“ Sie weinte aus Wut, als Uwe sie sanft in den Arm nahm und sie tröstete. „Na komm schon, Moni! Du musst geduldig sein. Du schaffst das, glaub mir!“ Moni beruhigte sich wieder und verlangte nach einem Taschentuch, putzte sich laut die Nase und legte sich beleidigt ins Bett zurück. „So ein Mist. Ich bin jetzt müde“. Uwe nickte und gab ihr eine Butterbrezel. „Hier, für dich. Eine kleine Belohnung“. „Danke“, mürrisch nahm sie die Brezel entgegen.
„Eine Patientin liegt im OP bereit, drückst du uns die Daumen, dass alles gut verläuft? Ich muss leider jetzt los, bis heute Abend, ja?“ Er drückte zärtlich Monis Hand und streichelte über ihre Wangen. Er verspürte wieder diesen Drang, ihr einen Kuss zu geben, aber die Therapeutin stand ja noch im Zimmer. Er musste sich regelrecht bremsen.
„Ok, alles klar. Ich wünsche gutes Gelingen! Da du der beste Arzt bist, wird das schon klappen.“ Moni zwang sich zu einem Lächeln. Sie versprach der verunsicherten Physiotherapeutin, dass sie am Nachmittag mit ihrer Tochter zusammen das laufen mit den Krücken noch einmal üben würde. Anschließend zog sie sich die Decke über den Kopf und war mit sich und der kompletten Situation ziemlich unzufrieden. Sie vermisste ihren Herbert, ihren Schatz. Sie vermisste ihr altes Leben. Sie dachte an ihre Heimat, an ihre Wohnung und schlief mit schönen Erinnerungen ein.
***
Nach dem deftigen Eintopf von Rita fuhren Kim und Käthe zurück nach Innsbruck. Während der Fahrt unterhielten sie sich über Lina und die Kleinen. Käthe erzählte ihrer Freundin von früher und von der Hass-Liebe, welche die Schwestern verband. Kim schüttelte nur den Kopf. „Das ist echt schade, also ich und mein Bruder. Also wir lieben uns ja!“ „Toll“, war alles, was Käthe dazu einfiel. War sie neidisch? Nein, aber sie wäre gerne ein Einzelkind gewesen, schon seit sie denken konnte, hatte sie diesen Gedanken. Dann hätte sie ihre Mama für sich gehabt und nicht so eine nervige kleine Schwester, die ständig im Vordergrund stehen wollte. Lina hatte eine temperamentvolle und aufdringliche laute Art. Sie hatte ihr immer die Schau gestohlen, immer stand sie im Schatten ihrer kleinen Schwester. Das war so ätzend. Käthe nahm sich vor, dieses Thema heute bei Dr. Marowski anzusprechen. Während sie ihr kleines Zimmer bezog, verabschiedete sich Kim mit einem dicken Kuss. Sie musste sich noch umziehen und dann gleich ihre Schicht antreten. „Süße, wir sehen uns heute Abend, ja?“ Schon huschte das süße Wesen davon. „Ok, und ich guck nach meiner Mama!“
***
Heute blieb Lina mit den Kleinen auf dem Hof. Sie hatte Tina versprochen nachmittags mit allen vier Kindern ins Dorf zu spazieren und den Einkauf für das Fest am Mittwoch zu erledigen. Georg hatte freundlicherweise Lina dazu eingeladen und ihr das Geld dafür gegeben. Zuerst war es Lina peinlich, dann aber freute sie sich über so viel Großzügigkeit. „Des isch abber arg nett, dange!“
Noch nie war jemand, den sie gar nicht richtig kannte, so nett und freundlich wie diese Familie hier. Ob es daran lag, dass es Österreicher waren? Oder wegen des Unfalles ihrer Mutter? Lina wusste es nicht, nahm es aber gerne dankbar an. In den selbstgebauten Bollerwagen legte sie Decken und Kissen und half den Kleinen beim Einsteigen. Sie selber war so glücklich und zufrieden, weil Irene und Gerhard sich hervorragend mit Lara und Linus verstanden. Die Kinder spielten jeden Tag zusammen, ohne sich zu streiten. So ausgeglichen und gut gelaunt kannte sie ihre Kinder nicht. Sie nahm die Tasche und das Geld und machte sich mit dem Bollerwagen fröhlich pfeifend auf den Weg.
Sie waren jetzt schon eingeladen, auch Weihnachten hier auf dem Hof zu verbringen. Das war eine so wunderbar schöne Idee. Weihnachten in den Bergen.
Olga und Rita hatten gekocht und waren in der Küche tätig. Aaron beobachtete neugierig die Handwerker, die damit beschäftigt waren, die Fliesen im neuen Badezimmer zu verlegen. Franz, Max, Karl und Georg waren heute mit den Tieren und Ställen zu Gange. Da es ein trockener und sonniger Tag war, durften die Kühe und Ziegen noch einmal auf die Weide nebenan. Die Männer nutzten die Zeit, um die Wände der Ställe mit Wasser abzuspritzen und zu säubern, bevor bald der Schnee und die Kälte kamen. Dann waren diese Tätigkeiten nicht mehr möglich. Margit, die Mutter von Max, stand am Bügelbrett mit einem riesengroßen Korb Wäsche und hatte das Radio laut aufgedreht. Tina hatte heute in ihrer Praxis im Nachbardorf viele Termine. So waren alle beschäftigt an diesem Montag und niemand bemerkte den Mann, der am Huberhof um das Haus schlich.