Sie fuhren durch den Engelbergtunnel bei Stuttgart. Dies bedeutete noch etwa eine halbe Stunde Fahrzeit. Moni rutschte unruhig auf ihrem Sitz hin und her und zappelte. Uwe fuhr auf einen Parkplatz und stieg aus.
„Musst du strullern?“
„Hä? Nein, komm steig aus!“
Er nahm sie liebevoll und zärtlich in seine Arme, mit seiner sanften, liebevollen Stimme, die für Moni inzwischen wie Musik klang, flüsterte er: „Mein Engel, ich bin immer für dich da. Du weißt, dein Glück ist mir sehr wichtig. Jetzt im Moment aber habe ich Angst. Angst, dass ich etwas falsch machen könnte. Es ist eine recht unübliche Situation, ich ...“ Schnell verbarg er seine zitternden Hände.
„Angst brauchst du keine zu haben. Du hast doch bis jetzt alles richtig gemacht.“ Daraufhin küssten sie sich engumschlungen.
Moni lotste ihn durch die engen Straßen und Gassen bis zum Parkplatz des Friedhofes. Es war inzwischen halb zwölf. Uwe sah sich die Umgebung von Monis Heimat an. Es war kalt und neblig, dennoch erkannte er eine liebliche Landschaft. Eine alte Burg lugte zwischen den Weinbergen hervor. Von dem Standort aus, konnte man zudem zwei Kirchen entdecken. Er nahm sich eine Flasche Cola, trank sie in einem Zug leer. Moni zog umständlich ihren Wintermantel an, mit ihren Krücken humpelte sie los. „Komm schon, wir müssen das Grab suchen“. Uwe kam sich in dem Trainingsanzug immer noch dumm vor. „Bitte, mein Engel, darf ich mich umziehen?“
Moni zuckte mit den Schultern, „Im Auto? Mach schnell ich geh schon mal voraus“.
Von weitem schon sah man das neu erschaffene Grab, die Erde hoch aufgetürmt mit vielen Kränzen, Blumengebinde und bepflanzte Schalen. Es traf Moni mit aller Wucht. Ein großes Bild stand vor dem Kreuz. Es zeigte sie mit Herbert als strahlendes, hübsches Paar, die Drei Zinnen als Kulisse. Schon einige Meter vor der Grabstelle brach sie zusammen. Sie kniete im nassen, schmutzigen Gras, die Hände vor dem Gesicht und schluchzte laut. Fremde Menschen kamen heran, versuchten Moni zu trösten. „Frau Häberle, unser aufrichtiges Beileid.“ Es handelte sich um irgendwelche Nachbarn, die Moni nicht erkannte.
Uwe wartete unschlüssig in einer Entfernung. Doch die Fremden riefen ihn her. „Sind Sie die Begleitung? Die Dame braucht Hilfe.“ Dann eilte er schnellen Schrittes herbei und half ihr auf die Beine. Er begleitete Moni zur nächsten Bank. Sie zitterte am ganzen Körper, ihr Gesicht war kreidebleich. „Oh mein Gott! Wie konnte das alles nur passieren?“ So saßen sie schweigend da. Moni starrte auf das Bild, Uwe streichelte Monis Hand wie ein Roboter.
Geschockt starrte Uwe ebenfalls auf das Bild, er hatte Herbert nur einmal kurz gesehen, da war er schon tot. Jetzt war es für ihn so, als lächelte ihm sein älterer Bruder entgegen. Genau betrachtet war es ein wunderschönes Foto. Zwei begeisterte Wanderer am Ziel ihrer Träume strahlten überglücklich in die Kamera. Moni trug ein rotes Stirnband, welches die wilden Locken bändigte. Die weiß-rot karierte Bluse zeigte ihr hübsches Dekolette. Sie war braun gebrannt, ihre grünen mandelförmigen Augen blinzelten mit der Sonne um die Wette. Der Mann an ihrer Seite hatte sie fest im Arm, um den Kopf ein Piratentuch gebunden. Sein gepflegter Bart und die sonnengebräunte Haut passten perfekt zu seinem Look. Die stahlblauen Augen erinnerten Uwe an das Mittelmeer. Vor allem und das war das Schlimmste für ihn, an seine Eigenen.
Nun hatte er Angst. Sogar große Angst, dass er seine geliebte Herzdame irgendwann an die Erinnerung verlieren würde.
Ein Regenguss scheuchte die beiden auf. Moni hakte sich bei ihrem Arzt unter, dann humpelte sie weinend zurück. Schnell beschlugen die Fensterscheiben. Auf dem Boden des Autos bildeten sich kleine braune Pfützen. Moni schniefte und schnäuzte, dabei verbrauchte sie fast ein ganzes Päckchen Taschentücher. Uwe saß wie ein Trottel in seinem Sitz, stumm, zu keiner Handlung fähig, starrte er einfach nur geradeaus. Irgendwann startete er den Motor, drehte an verschiedenen Knöpfen der Belüftung, drehte das Radio leiser und legte seine Hand auf Monis Schenkel. Ihre Jogginghose war durch durchnässt, übersät mit Grasflecken und voller Dreck. Sie fragte ihn unter weiterem Schluchzen: „Gibst du mir einen Kuss?“
Schnell zog er sie zu sich in den Arm, streichelte über ihre nassen, in Strähnen hängenden Haaren und küsste sie vorsichtig auf die Wange. „Ach herrje, mein Engel, wie schrecklich!“ Sinnvolleres brachte er im Moment nicht zustande. Er wünschte sich in seinen Arztkittel, um damit für viele Stunden in einen OP zu verschwinden.
***
„Fährst du mich jetzt zu mir nach Hause?“ Uwe schluckte, nickte kaum merklich, „Mhmm“. Moni dirigierte ihn nur wenige Straßen weiter, schon stand der Wagen vor einer Garage. „Hier ist das Haus, meine Wohnung ist unten, oben wohnt der Schwiegervater.“ Uwe nickte wieder, dabei machte er keinerlei Anstalten auszusteigen. Sie nahm seine Hand, „Bitte, komm mit mir!“
Herberts Schwester Klara schaute durch Zufall aus dem Fenster und sah die beiden aussteigen. Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Laut schallte es durch die engen Gassen: „Ach Gott, ach Gott, um Gottes wille Moni, bisch du des? Wart i komm runder.“
Sie verfügte über den gleichen ausgeprägten Dialekt wie Monis Tochter Lina. Herzlichst wurden beide begrüßt, Uwe sah den Schwiegervater mit grimmigem Blick am Fenster stehen.
„Herr Dokder, ach Gott, hen sie se gfahre?“ Er verstand sie nicht. „Ich musste dringend zum Friedhof, weisch.“ Moni fing an zu schwäbeln. Die Frauen lagen sich in den Armen und weinten. Uwe räuspere sich, „Wir sollten dringend unsere nassen, schmutzigen Kleider wechseln“, dabei nahm er die Reisetasche aus dem Wagen.
„Uff jeden Fall, kommet schnell, net dass dr no krank werdet. I hab am Oba Ebirnschnitz un Schpatze (Kartoffelschnitz und Spätzle - ein traditionelles schwäbisches Gericht) kocht, kommet ihr dann a hoch, gell?“ „Danke Klara, aber wir haben keinen Hunger. Ich muss noch paar Sachen hole und einpacken.“
Uwe fand die Wohnung schön eingerichtet, hell, modern und sehr gemütlich. „Unter anderen Umständen würde ich mich sehr wohl fühlen hier.“
Dann duschte er heiß und war froh, den Trainingsanzug dabei zu haben. Seine Kleidung hing über der Heizung zum Trocknen. Moni saß eingewickelt mit einem warmen Badetuch auf dem Wannenrand und föhnte ihre Haare. Im Schrank suchte sie sich eine weit geschnittene Jeans, dazu entschied sie sich für eine schicke Bluse. Uwe saß inzwischen im Wohnzimmer und zappte durch die Programme. „Ich muss einiges erledigen!“, damit verschwand sie im Büro. Uwe hörte es tippen, drucken, rascheln und rumoren. Dabei nickte er ein. Moni war fleißig, sie hatte zwei Klappboxen mit Schreibkram, Unterlagen und ein paar Büchern gefüllt. In einer Tasche befand sich der Laptop, ein Tablet sowie andere Elektrogeräte mit den dazu gehörenden Kabeln.
Sie wühlte gerade durch ihre Sachen im Schrank, als Uwe ins Schlafzimmer trat. Dabei fiel sein Blick sofort auf die riesengroße schwarz-weiß Fotografie. Ihm stockte der Atem. „Wow“.
Es zeigte Moni in einer erotischen Position in einem Spiel aus Licht und Schatten. Die langen Locken umspielten ihre Brüste und ihren Körper jedoch nur schemenhaft. Man(n) sah alles und doch nichts. Der Ausdruck in den perfekt geschminkten Augen, der Schmollmund, für Uwe war es DER Klassiker. Moni trug lediglich Overknee-Stiefel mit hohem Absatz sowie silbernen Schnallen. Es war das schönste Bild seiner Art, welches er jemals gesehen hatte.
Fasziniert stand er davor, „Nimmst du es mit?“ „Nö, das habe ich doch Herbert geschenkt. Noch dazu ist es zehn Jahre alt“, antwortete sie gelangweilt.
Da klopfte es an der Tür, herein trat Tim, Herberts jüngster Sohn. Schweigend nahm er Moni in den Arm, sie streichelten sich gegenseitig über den Rücken. „Schön dich zu sehen, Mama Moni, du bist wieder da?“ „Nein, Tim, ich hol nur noch ein paar Sachen. Ich werde wohl nicht so schnell zurückkehren. Hier würde ich jede Sekunde meines Lebens an deinen lieben Vater denken, vermutlich wäre ich für immer unglücklich oder sehr traurig. Deswegen bleibe ich mit Käthe in den Bergen. Wir können uns aber jederzeit besuchen, du bist immer bei mir herzlich willkommen.“ Sie streichelte über seine kurzgeschorenen Haare. „Du kannst gerne hier in der Wohnung bleiben, ich möchte nichts von eurem Erbe. Ich habe alles, was ich brauche“, Tim fing an zu weinen, doch Monis Tränen waren für den Moment versiegt.
Herberts Jüngster zog traurig von dannen, Moni schnappte holte tief Luft, schnappte sich eine weitere Tasche und stürmte ins Badezimmer. Uwe trottete hinterher, legte zärtlich seine Arme um sie. „Meine Liebe, bitte, nimm nur das Notwendigste. So groß ist mein Wagen auch wieder nicht. Solche Sachen kannst du auch in Innsbruck kaufen.“ Sie entschied sich dennoch für ihre Lieblingsparfüme, Bürsten, verschiedenen Kurpackungen und Haaröle. In der Kommode im Schlafzimmer fand sie außerdem äußerst schicke Reizwäsche. Diese hob sie Uwe unter die Nase, „Das noch?“, dabei lachte sie frech. „Gerne,“ Uwe grinste seltsam, hatte die Hände in die Jogginghosentaschen gesteckt. Er wirkte in dieser Pose in diesem Outfit extrem jung. Aber eigentlich war er auf dem Sprung, zu gerne würde er jetzt abhauen.