Lina und Flo waren fertig mit dem Abendessen. Die Kinder spielten in ihrem Zimmer, endlich war Ruhe eingekehrt. Lina war jetzt 24 Jahre alt und schaffte oft ihren Alltag mit den beiden Kindern nicht. Fühlte sich überfordert und hätte gerne mehr Zeit für sich selber. Ihre Mutter könnte doch mehr helfen und ihr die Kinder abnehmen, dachte sie so bei sich, als sie das Geschirr abräumte. Flo setzte sich vor den Fernseher und wollte seine Ruhe. Sie wohnten im Haus seiner Oma im ersten Stock. Seine Familie hatte einen großen Bio-Bauernhof. Flo bezahlte alles und dafür ließ sich dieser gerne von vorne bis hinten bedienen. Ein richtiger Macho war das. Ein Pascha. Ein gutaussehender Obermacho-Pascha. „Wenn du fertig bist, dann kannst du mir ein Bier bringen“, hörte sie ihn rufen. Lina zeigte ihm als Antwort heimlich den Stinkefinger, brachte ihm mürrisch das gewünschte Getränk und säuselte mit gekünstelter Stimme: „Aber natürlich mein Liebster“.
Schon wieder war ihre Mutter im Urlaub, irgendwie war sie darauf neidisch. Leisten könnten sie sich das ja auch. Aber einen Urlaub mit den Kindern konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Sie wünschte sich ein langes Telefonat mit ihrer Mama, um ihr von ihrem Tag zu erzählen und dem bevorstehenden Wochenende. Denn sie sollte am kommenden Samstag bei einer Hochzeit in der Kirche Amazing Grace singen und den kompletten Abend mit der Band für gute Unterhaltung der gesamten Hochzeitsgesellschaft sorgen. Das würde fantastisch werden. Lina war Sängerin in einer Band, hatte viele Freunde und seit sie bei Flo wohnte auch Geld. Richtig viel Geld. Sie musste nur die Gänse und Hühner versorgen und ging mit den Hunden zweimal am Tag spazieren. Ansonsten sollte sie sich nur um den Haushalt, natürlich auch um die Kids kümmern und für Flo ein schönes Abendessen kochen. Dreimal in der Woche traf sie sich abends mit den Bandmitgliedern zur Probe und an den Wochenenden hatten sie Auftritte, dann spielte Flo den Babysitter. Das wiederum war eine super Sache.
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Der Hubschrauber mit Herbert an Bord landete und der Verletzte wurde schnell Richtung OP gebracht, während sie mit dem Aufzug fuhren, gab es eine kleine Übergabe. Victor machte sich ernsthafte Sorgen, überlegte krampfhaft, was er als Erstes tun könne.
Herbert jedoch verstarb noch auf dem Weg dorthin. Die Ärzte und das Team konnten im vorbereiteten OP leider nur noch den Tod feststellen, seine Verletzungen waren einfach zu stark. Die Stöcke steckten in der Lunge, hatten diese zerfetzt und zusätzlich für einen großen Blutverlust gesorgt. Bestürzt stand Victor vor dem großen Saal-
Nicole, die Sozialpädagogin und Seelsorgerin wurde aus ihrer Rufbereitschaft geholt, sie kümmerte sich um den kompletten Ablauf, wenn Patienten verstorben sind. Zu ihren Aufgaben gehörte es auch, die Angehörigen zu finden, zu erreichen und ihnen das Geschehene vorsichtig mitzuteilen.
In der Zwischenzeit war auch Moni in der Klinik eingetroffen und wurde von dem zweiten Team versorgt, stabilisiert und untersucht. Sie versetzten Moni in ein künstliches Koma, gaben ihr verschiedene Infusionen und verkabelten sie, damit das Notfallteam alle wichtigen Funktionen jederzeit an den Monitoren überprüfen und überwachen konnten. Nach vielen Untersuchungen wie MRT, CT und Röntgenaufnahmen standen folgende Diagnosen und Befunde fest: Felsenbeinlängsbruch (Nase- und Schädelbasis) wie schon vermutet – muss evtl. operiert werden.
Eine Trimalleoräre Sprunggelenksfraktur rechts, das bedeutet eine Verletzung des oberen Sprunggelenks, bei der sowohl das Schienbein (Tibia) als auch das Wadenbein betroffen waren. Muss auf jeden Fall operiert werden, da die Gelenkpartner gegeneinander verschoben waren und die Verletzung der Syndesmose die Stabilität des gesamten Gelenks massiv beeinträchtigt. Bei der Operation wird das Sprunggelenk meist mithilfe einer Platte und mehreren Schrauben refixiert.
Nekröse Zehen, die Zehen wurden ziemlich lange nicht mehr mit Sauerstoff versorgt, verursacht durch die Sprunggelenksfraktur, bei der viele Nerven durchtrennt abgedrückt wurden und müssen beobachtet werden, evtl. drohte hier die Amputation.
Ellenbogentrümmerbruch rechts, hier war ein operatives Therapieregime erforderlich, um die Funktion des Radiuskopfes im Ellenbogengelenk wieder herzustellen. Der Umfang der operativ durchgeführten Maßnahmen richtet sich hierbei nach dem Ausmaß des Bruches. Dieses muss noch genauer untersucht werden. Auch werden Metallplatte und Schrauben notwendig sein. Dazu kamen viele Schürfwunden, Prellungen, Verstauchungen und Blutergüsse.
Weit nach Mitternacht meldete sich Victor bei seinem Chef und berichtete ihm von der aktuellen Lage. Den Tod des männlichen Verunglückten hatte ihm Maria schon gemeldet. Die weibliche Verletzte war soweit stabil, dass die notwendigen Operationen durchgeführt werden konnten, und Uwe gab ihnen grünes Licht. Er vertraute seinen beiden Oberärzte, sie waren hervorragende Chirurgen und auch Freunde. „Legt los, gebt euer Bestes, denkt an nichts anderes, ihr könnt mich jederzeit anrufen. Um das Schädel-Hirn-Trauma kümmere ich mich morgen. Ich komme so früh wie möglich“. Uwe lies sich alle Befunde des Schädels und des Gehirns per E-Mail schicken, um diese gewissenhaft auszuwerten. Dann entschied er, dass eine externe Ventrikeldrainage notwendig sei, damit der Druck im Gehirn durch den kleinen Bluterguss den er erkannt hatte, nicht steigt.
Moni Häberle würde also die nächsten Stunden im Operationssaal verbringen. Das Ärzteteam, die OP Schwestern und die Assistenten hatte jede Menge zu tun. Uwe ging zurück ins Bett und versuchte, ein paar Stunden Ruhe und Erholung zu bekommen. Es würden schwierige Tage auf ihn zukommen. Aber in all den Jahren hatte er sich Entspannungsübungen angeeignet, die ihn schnell einschlafen und erholen ließen. Er musste so schnell wie möglich in die Klinik, das wollte er aber ohne Whiskey im Blut.
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In der Nacht klingelten in dem schwäbischen Weinort mehrere Telefone. Die Angerufenen wurden alle aus dem Schlaf gerissen und die Nachrichten, die sie erhielten, waren kaum fassbar, nicht zu glauben. Sie lösten viel Hysterie und Weinkrämpfe aus. Herberts Vater Adolf, seine Schwester Klara und sein Sohn Axel, entschieden sich dafür, gleich freitags die Reise nach Innsbruck gemeinsam anzutreten, um bei Herbert zu sein. Sie konnten es einfach nicht glauben und wollten ihn so schnell wie möglich sehen. Herberts Söhne Tim und Lukas konnten sie in der Nacht nicht erreichen.
Johann, Monis Bruder und Uta die Schwester, wurden einige Stunden später direkt von Nicole benachrichtigt, wobei Herberts Schwester natürlich die wichtigsten Bezugspersonen bereits alarmiert hatte. Uta war daher schon einem Ohnmachtsanfall nahe und benötigte selber einen Notarzt. Otto kümmerte sich um seine Frau und sie beschlossen gemeinsam, den Töchtern Käthe und Lina erst dann Bescheid zu geben, wenn einigermaßen Klarheit über Monis Zustand und Prognose bekannt wurde. Sie hatten noch Zeit. Sie war ja so weit weg.