Käthe sah gelangweilt und traurig aus ihrem kleinen Holzfenster. Wie sie es hasste, hier zu sein. Nicht einmal guten Handy-Empfang hatte man in dieser Einöde. Sie sah auf ihrem Display, dass ihre Mutter ihr Fotos geschickt hatte, konnte sie aber nicht öffnen. Das deprimierte sie in diesem Moment noch mehr. Was nützte ihr die schöne Landschaft hier? Das war ihr doch sowieso scheißegal. Warum nur musste sie diese olle Krankheit haben, die es ihr so schwer machte, ein einigermaßen normales Leben zu führen. Stattdessen sollte sie täglich eine Handvoll Medikamente einnehmen, welche ihre Wirkung nicht so zeigten, wie es sich alle erhofft hatten. Und sie hatten jede Menge Nebenwirkungen.
Zum Beispiel war sie ständig müde, konnte sich auf nichts lange konzentrieren und war oft deprimiert. Ein Leben in der Arbeitswelt, um endlich selbstständiger zu werden, rückte immer weiter weg. Einzig die Liebe zur Musik, die sie in Form von kleinen Knöpfen in den Ohren mit sich trug und ihre Klarinette gaben ihr das Gefühl, am Leben teilzunehmen. Ihr zweites Hobby war das Zeichnen. Schon im Kindergarten sah man ihren Bildern das Talent an. Käthe wurde dafür oft gelobt. Durch ihre Krankheit hatte sie es aber nicht geschafft, etwas aus diesen wunderbaren Talenten zu machen. Ständig landete sie in der Psychiatrie und drehte sich immer wieder im Kreis. Bald wurde sie 26 Jahre alt, und sie fragte sich häufig, wie es mit ihr denn weiter gehen sollte.
Nun war auch noch ihre Mama im Urlaub, nicht, dass sie es ihr nicht gönnte. Doch, doch, denn Käthe war intelligent genug, um zu wissen, wie schwer es für eine Mutter sein müsse, mit dieser Last umzugehen. Dennoch vermisste sie Moni. Sie telefonierten täglich, weil Käthe dadurch das Gefühl bekam, dazuzugehören. Ihre Mama war für sie eine Art Freundin geworden. Mit ihr konnte sie auch Blödsinn machen und zusammen lachten sie viel. Was wäre sie nur ohne Mami? Sie hatte noch die Tante Uta, doch diese hatte ihre eigene Familie und war auch schon Oma. Hatte ebenso alle Hände voll zu tun. Mit Uta telefonierte sie ebenfalls fast täglich, mit ihr hatte sie auch viel Spaß.
Mit ihrer Schwester Lina hatte sie kein so gutes Verhältnis. Dafür waren sie einfach zu unterschiedlich. Schon seit der Kindheit war Lina eine launische, temperamentvolle und menschenmanipulierende und in Käthes Augen unverschämte Person. Mit ihr konnte sie nicht zusammen sein. Nun hatte sie auch noch diese schrecklichen Kinder. Käthe hasste Kinder.
Dann war da natürlich noch Tamara, ihre Freundin. Diese war selbst psychisch krank und hatte starke Depressionen, so dass sie ihr keine Hilfe war, wenn es ihr schlecht ging. Es war doch alles so ausweglos, oder? Ihre Mutter hatte lange gebraucht, um zu akzeptieren, dass sie Tamara liebt und nicht irgendeinen Mann. „Hä? Wie bitte? Lesbisch? Meine Tochter? Das haut mich um“, rief ihre Mama damals, als sie die beiden zum ersten Mal eng umschlungen sah. Dieses Thema stand zwischen ihnen wie ein riesiger Felsbrocken.
***
Moni und Herbert waren auf dem Weg zum Touristen-Steig, der sie hinunter nach Schluderbach führen würde. Von dort konnten sie mit dem Bus zurück nach Toblach fahren. Doch Moni murmelte ängstlich: „Schatz, bitte, lass uns zu der Jeep-Station laufen und von dort aus mit dem Jeep zurück ins Tal fahren. Ich bin sehr müde und kann nicht mehr.“ Herbert packte noch ein Mal seine Wanderkarte aus und deutete auf die eingezeichneten Wanderwege. „Schau mal Kleine, der Weg dorthin dauert mindestens auch anderthalb Stunden. Bis wir dann unten im Tal sind, wird es viel zu spät. Wir wären dann hier, schau, auf der ganz falschen Seite. Wer weiß ob dann noch ein Bus zurück fährt“, antwortete er sachlich, „Nein, wir wandern über den Monte Piana hinunter nach Schluderbach, so wie besprochen. Wir können uns Zeit lassen, du schaffst das, vertrau mir.“
Moni suchte auf der Karte den Weg nach roten Punkten ab, konnte ein paar davon erkennen und hatte sofort wieder Angst. Sie wollte hier einfach nicht weiter gehen. Sie fühlte sich schlapp und ohne Kraft! „Dann trennen wir uns, du läufst da runter und ich nehme den Jeep. In Toblach treffen wir uns am Bahnhof. Wie wäre das?“ Monis Vorschlag schmetterte ihr Schatzi jedoch ab. Und so trottete sie ihm mürrisch hinterher.
Der Weg war zu Beginn harmlos, schmal aber nicht steil. Überall Wiesen und Gebüsch. Moni hatte inzwischen ihre Wanderstöcke ausgepackt, denn beim Abstieg gaben sie ihr ein besseres und sicheres Gefühl. Sie hörten die schrillen Schreie der Murmeltiere und konnten sogar einige aus der Entfernung beobachten. Auch die großen Dohlen flogen umher, auch ihre Schreie waren laut. Für Moni war es wie eine Drohung oder gar eine Warnung? Hier und da konnte man sogar andere Wanderpärchen entdecken und sie fühlte sich nicht mehr so einsam.
Sie machten eine kurze Rast, teilten sich den letzten Apfel und tranken eine weitere Flasche leer. Gut, dass Moni genug Wasser mit genommen hatte. Herbert ging voraus, er marschierte extra langsam und sie dachte einen Moment daran, dass sie diesen Touristensteig natürlich ganz locker schaffen würde. Doch dann sah sie es von weitem:
Ein langes Geröllfeld auf einer extrem steilen Felswand und einen sehr schmalen Steig, auf dem sie wandern sollten. Das durfte wohl nicht wahr sein, nie im Leben würde sie darüber gehen können. Herbert sah sie scharf an und raunte: „Bitte, mach kein Theater, es sieht nur schwierig aus. Einfach weiter gehen, nicht nach unten schauen“. „Ok“, Moni nickte und holte tief Luft, dann nahm sie all ihren Mut zusammen und schritt vorsichtig hinter Herbert her. Warum wusste sie bis heute nicht, aber nach der Hälfte der Strecke fing sie an zu zittern. Sie musste stehen bleiben. Ihr Blick ging automatisch nach rechts hinunter zum Abhang, sie sah das Geröll, die winzigen Steinchen, den Rollsplitt.
Ihr wurde schwindelig, alles drehte sich. Panik machte sich breit. Moni winselte mit zittriger Stimme kleinlaut, „Schatz, hilf mir, ich kann nicht mehr weiter gehen“. Herbert verstand die Welt nicht mehr, er blickte sie mitleidig an und sagte vorsichtig: „Ich weiß nicht was ich machen soll, komm, gib mir deine Hand“.
Doch Moni schaffte es tatsächlich nicht, weiter zu gehen, stattdessen heulte sie laut und geriet ins Trudeln, landete auf dem Bauch und rutsche langsam den Abhang hinunter und ihre Wanderstöcke hinter ihr her. Dabei schrie sie sich die Seele aus dem Leib. Herbert starrte ihr fassungslos nach und sah in einiger Entfernung eine große Wurzel samt einem Felsvorsprung. Dann rief so laut er konnte: „Halt dich an dem Felsen fest, da kommt gleich ein Felsen, versuch ihn zu fassen, halt dich fest! Halt dich fest! Halt dich fest!“ Während er schrie, setzte er seinen Rucksack ab, zog sich die Jacke aus und lies beides den Hang hinuntergleiten. Er selbst setzte sich auf den Hintern und rutsche Moni hinterher. Diese hing tatsächlich an dem kleinen Felsvorsprung und hatte einen furchtbar verzerrten Gesichtsausdruck.
„Mach deinen Rucksack ab, ich rutsche an dir vorbei, weiter unten sehe ich eine kleine Mulde, die Steilwand ist hier unterbrochen, da werde ich dich auffangen. Hab keine Angst meine Kleine, wir schaffen das“, waren die letzten Worte, die sie noch hörte, sie hatte keine Kraft mehr, um sich länger festzuhalten. Herbert landete wie gewollt in der kleinen Mulde, welche jedoch sehr felsig und steinig war; was er nicht sah, waren die Wanderstöcke, die sich zwischen den Rucksäcken und einer gemeinen Felsspalte verhakten und dabei seitlich nach oben standen. Er plumpste direkt auf die Spitzen der Stöcke, welche sich in seinen Rücken rammten. Die Schmerzen nahmen ihm sofort den Atem und die Stimme.
Einen Bruchteil einer Sekunde später schoss seine Moni direkt auf ihn zu und landete hart auf seinem Bauch. Die Stöcke bohrten sich dabei noch tiefer in seinen Körper. Er war sofort bewusstlos. Moni fiel wie ein Stein und prallte auf ihrer rechten Körperseite auf. Zur Hälfte lag sie auf ihrem Liebsten. Mit der Schläfe prallte sie jedoch gegen den harten Boden und dadurch verlor auch sie das Bewusstsein. Nur drei Zentimeter weiter vorne ging es 260 Meter direkt in die Tiefe.
Stille.
Hier und da rieselten noch wenige Steinchen den Abhang hinunter. Die Sonne färbte den Himmel in ein zartes orange, bald würden die Dolomiten zu glühen beginnen. Oben zog ein Urlaubsflieger lautlos seine weiße Spur.