Herberts Familie war spät abends in Innsbruck angekommen und wurde sehr freundlich in der Klinik empfangen. Eine kleine Gruppe aus Seelsorger und Pädagogen standen den Angehörigen zur Seite und Nicole begleitete sie in den extra dafür vorbereiten Aufenthaltsraum. Dieser lag abseits im Verwaltungstrakt. Es kam öfters vor, dass Angehörige von weither anreisen mussten und mehrere Tage hier verbrachten, so lag es nahe, dafür zu sorgen, dass sie sich hier wohl fühlten. Dafür hatte die Klinik insgesamt drei solche Räume.
Hier gab es bequeme Sessel und Liegen mit Kuscheldecken und Kissen. Überall sorgten große Pflanzen für eine angenehme Atmosphäre. Äpfel und Kekse standen auf einem kleinen Tisch bereit. Daneben Wasser, Kaffee, Tee und jede Menge Gläser und Tassen. An den Raum grenzte ein kleiner Balkon für die Raucher unter den Besuchern. Zeitschriften und ein Fernseher sollten für Abwechslung und Ablenkung sorgen. Das große Süßwasser-Aquarium war ein echter Hingucker. Kostenloses WIFI sorgte für einen guten Internetempfang. Neben dem großen Raum waren die sanitären Anlagen untergebracht, hier konnte man sogar duschen. Im Nebengebäude standen Zimmer für die Übernachtung bereit, welche die Angehörigen für kleines Geld mieten konnten.
Uwe kam durch die Tür und begrüßte Herberts Familie. Uwe war ein 1,90 Meter großer, stattlicher Mann mit breiten Schultern und stämmiger Figur. Mit seinen kräftigen Händen und den langen Finger hätte man ihn nicht unbedingt als Gehirnchirurg eingestuft. Die lockigen, wuscheligen braunen Haare trug er fast schulterlang, ein paar Strähnen hingen ihm ins Gesicht. Seine stahlblauen Augen hatten etwas Geheimnisvolles, Kühles und Unnahbares. Das markante Kinn mit dem süßen Grübchen, die lange Narbe an seiner rechten Schläfe und dem Viertage-Bart erinnerten eher an einen Piraten und nicht an einen Chefarzt.
Mit seiner ruhigen, sympathischen und äußerst freundlichen Art erklärte er den Angehörigen den Unfallhergang, die Bergung und die tödlichen Verletzungen, an denen Herbert Häberle schließlich starb. Ebenso erkläre er Ihnen, wie es Frau Häberle stand. Ein Pfarrer war da und in der kleinen Krankenhaus-Kapelle sollte später ein Gedenkgottesdienst für ihn stattfinden, sofern die Familie dies wünschte. Nicole tauchte mit einigen Formularen auf, die es auszufüllen galt, damit Herbert bald in seine Heimat gebracht werden konnte. Uwe verabschiedete sich und ging zurück auf seine Station. Herberts Schwester Klara fiel das Reden immer noch schwer. Der Schock stand ihr tief ins Gesicht geschrieben, so dass der Seelsorger sich liebevoll ihrer annahm.
Georg hatte sich inzwischen hingelegt und Victor, der Oberarzt war schon seit ein paar Stunden zuhause. Uwe hatte noch Eva und zwei weitere Assistenzärzte, welche bis Sonntag Abend Dienst hatten, gemeinsam würden sie den Klinik-Alltag bewältigen. Peter stand ab Montag wieder im Dienstplan und Victor hatte fünf Tage Rufbereitschaft. Er wohnte glücklicherweise in der Nähe und war innerhalb von 15 Minuten in der Klinik.
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Nach dem Telefonat mit dem Chefarzt brachen Käthe und Lina gleichzeitig in hysterisches Geplärre aus. Paul und Otto tranken abwechselnd Kaffee und Bier, während Uta sich auf die Couch legen musste. Sie hatte einen schweren Migräne-Anfall. Käthe stürmte auf den Balkon und rauchte drei Zigaretten hintereinander. Paul kam zu ihr, rauchte mit, nahm sie in den Arm und versuchte, sie zu trösten. Nach einer guten Stunde deckten Otto und Lina den Tisch, um ein wenig zu essen. Gemeinsam beschlossen sie, dass Otto, Johann, Käthe und Uta am nächsten Tag nach Innsbruck fahren würden.
Da Käthe sowieso das Wochenende hier verbringen würde, legte sie sich ins Bett im extra für sie hergerichteten Gästezimmer und wollte ihre Freundin Tamara erreichen. Vergeblich. Dann versuchte sie zu schlafen. Doch sie konnte nicht aufhören zu weinen, sie weinte um ihre Mutter, sie weinte um Herbert und schließlich weinte sie wegen dieser ganzen Scheiß-Welt. Und ganz zum Schluss weinte sie wegen ihrem eigenen Schicksal.
Tränen
Überall
Johann meldete sich per sms, um mitzuteilen, dass er am nächsten Morgen gegen 9.00 Uhr hier wäre. Paul und Lina fuhren spät am Abend zurück, sie wollte zu ihren Kindern und zu Flo. Paul würde das Wochenende bei Lina und seinen Enkeln bleiben. Paul war zwar nie der gute Vater, den er immer sein wollte, doch im Notfall stand er seinen Töchtern immer zur Seite. Er steckte Käthe zwei 100 € Scheine zu bevor er ging, um sicher zu sein, dass sie sich ein paar Tage versorgen könnte. „Ich hab dich lieb“, sagte er zum Schluss und küsste seine Tochter auf die Stirn.
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Susan und ihre Freundinnen hatten den Tag in München mit shoppen verbracht und abends wollten sie lecker Essen gehen. Jede war auf ihrem Zimmer im historischen 4 Sterne Hotel Torbräu, im Zentrum der Stadt und machte sich hübsch für den Abend. Susan wollte sich nach dem Essen aus dem Staub machen und sich für ein paar Stunden vergnügen, mit wem das würde sie niemand erzählen. Das war das große Geheimnis. Susan führte ein kleines Doppelleben und es gefiel ihr sehr gut. Sie fühlte sich dadurch lebendig und einzigartig toll! Uwe hatte das zwar nicht verdient, es tat ihr leid und dennoch konnte sie nicht anders. Sie wusste, dass sie sehr egoistisch war.
Ihre Freundinnen würden sie dafür verachten. Krampfhaft suchte sie eine passende Ausrede. Schon mehrmals hatte sie versucht, ihren Uwe ans Telefon zu kriegen. Doch dieser meldete sich nicht zurück. Sein privates Handy war ausgeschaltet und auf Station blockten die Mitarbeiter ab. Er hätte sehr viel zu tun und war leider nicht zu sprechen. Sie zuckte mit den Schultern und dachte bei sich „Pech gehabt“. So rief sie ihren Liebhaber an, der unterwegs auf der Autobahn Richtung München war. „Hey meine Schnecke, ich freue mich schon auf dich. Ich bin so froh, dass es doch noch geklappt hat. Die letzten Tage in der Klinik waren richtig hart und ich brauche jetzt eine geile Nacht mit dir. Meine Frau war schwer enttäuscht, als sie erfuhr, dass ich zu einem Seminar nach München muss“, er lachte schallend und Susan lachte mit.