Kurz bevor der Wecker klingelte, drehte sich Moni unruhig im Bett hin und her. Sie fand keinen Schlaf mehr. Warum war sie bloß so aufgeregt? Sie dachte darüber nach, was für ein langer Marsch heute ansteht, wie der Tag werden würde, ob auch alles so klappt, wie sie es sich vorgestellt hatten, und es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter. Schon wieder dieses furchtbar ungute Gefühl. Als würde er es spüren, kuschelte sich Herbert ganz nah an Moni heran, dabei schnarchte er sanft und leise weiter. Sie hing ihren Gedanken nach. Sie würde jetzt gleich ihre Töchter und ihre Schwester anrufen, sie machten das täglich, was zwar Quatsch war, doch irgendwie hatte sich das in all den vergangenen Jahren so eingespielt. Es gab ja genug Gründe. Sie versuchte, sich aus den Armen von ihrem Liebsten zu befreien, doch er lag auf ihren langen, lockigen dunklen Haaren und Moni musste ein wenig ruppig werden. Es war erst kurz vor sechs als sie bemerkte, dass sie um diese Uhrzeit noch gar niemand von den Dreien anrufen kann. Also ging sie direkt ins Bad und beschloss, dass sie nur schnell duschen würde, ohne die Haare zu waschen. Es war immer so aufwändig und sie würden bestimmt ordentlich ins Schwitzen kommen heute.
In der kleinen Küche waren die wichtigen Utensilien für den heutigen Ausflug schon vorbereitet und sie machte Kaffee mit dem kleinen Espresso-Kocher. So schmeckte ihnen der Kaffee am besten. Sie schaltete das Radio ein. Sie liebte den Südtiroler Dialekt und konnte stundenlang zuhören und sich daran erfreuen. Nun sangen die drei ladinische Sängerinnen aus dem Gadertal, bekannt aus dem TV, doch ihr wollte deren Namen nicht einfallen. Da rief Herbert aus dem Schlafzimmer: „Hey Baby, hast du mich einfach alleine gelassen?“ Moni musste schmunzeln und rief zurück: „Na klar, du Schnarchzapfen, los komm, aufstehen!“ Gemeinsam saßen sie nun am Tisch, bewaffnet mit einer Kaffeetasse und grinsten sich an.
„Was ist mit dir Süße? Was geht dir durch den Kopf? Ich sehe es dir doch an, da stimmt was nicht“, meinte Herbert, der morgens normalerweise kaum, bis gar nichts sagte. Der gediegene Morgenmuffel schlechthin. „Ach nichts“, entgegnete Moni mit dem Wissen, dass er ihr das nicht abnimmt. „Ich muss zuhause mal anrufen, dann geht es mir bestimmt besser“, fügte sie noch hinzu und ging aus dem Zimmer. Während Herbert im Bad war, telefonierte sie zuerst mit ihrer Schwester Uta. Beide erzählten jeweils, was in den letzten beiden Tagen los war und Uta wünschte Moni einen tollen Tag. Dann beteuerte sie ihr, dass sie sich den Urlaub verdient hätte und sie kein schlechtes Gewissen haben musste, wenn sie ihre schon längst erwachsenen Töchter *alleine* lies. Uta war die Vertretung von Moni in Sachen Familie. Sie war ihr sehr dankbar dafür.
Schon immer kümmerten sich ihre Schwester und deren Mann Otto um sie und ihre Töchter. Vor allem früher, als die Kinder klein waren und Moni frisch geschieden war, hatten sie ihr auch finanziell geholfen. Oft konnte Moni die Kids bei ihnen parken, wenn sie beruflich eingespannt war oder einfach eine Pause benötigte.
Immer noch in Gedanken an früher zog Moni ihre Wanderklamotten an und packte in den Rucksack eine extra Flasche Wasser (man wusste ja nie), da fiel ihr Blick auf die bunte Häkeltasche, in der sie ihre neue Wolle und Stricknadeln hatte.
Das war ihr großes Hobby. Abends gemütlich auf der Couch sitzen, stricken oder häkeln. Es war ein tolles Gefühl, wenn man selbst etwas erschaffen konnte. Am allerliebsten strickte sie Socken. Für den Winter bestückte sie die ganze Familie mit Mützen, Schals und Tücher. Moni überlegte, ob sie die Tasche mitnehmen sollte, damit sie sich in der Wartezeit beschäftigen konnte. Herbert kam vorbei und er erkannte die Situation sofort und raunzte: „Denkst du wirklich, du hättest dafür heute Zeit? Du weißt schon, dass wir 1.000 Höhenmeter überwinden müssen? Du kannst doch morgen wieder stricken, lass das Zeug hier.“ Moni antwortete sehr kleinlaut: „Nun ja, ich dachte, während du den Klettersteig machst...“, „Also Schatz, sag mal, wir haben doch gestern ganz genau die Karte studiert, dein Weg ist doch dreimal so lang wie mein Felsen. Nur weil es steil hinauf geht, bin ich doch nicht später am Ziel“, Herbert schien ziemlich genervt. Vielleicht war auch er aufgeregt?
Moni schnappte sich das Telefon und rief bei Käthe, ihrer ältesten Tochter an. Sie war mittlerweile sechsundzwanzig Jahre alt und lebte seit ein paar Monaten abgeschieden in einer Einrichtung für psychisch kranke Jugendliche und junge Menschen. Ein alter Bauernhof mitten im Wald, mitten im Nichts. Käthe war über den Standort sehr unglücklich und benötigte, auch bedingt durch ihre Krankheit, ihre Mutter noch sehr. Käthe war aber ganz tapfer, sie gönnte ihr natürlich die Auszeit und meinte brav: „Bei mir ist alles in Ordnung, Mami, genieße deinen Urlaub und komme bald wieder zurück, hab dich lieb Mami, gell du mich auch?“ Moni erzählte, wie toll es hier in Südtirol war, was sie heute vor hatten, und dass sie sie auch sehr lieb hatte, dann legte sie schnell auf. Moni und Herbert starrten sich an, er sagte nichts, sein genervter Blick genügte. Er nahm sie zärtlich in seine starken Arme und knutsche sie wild. Er war der Fels in der Brandung.
Herbert deutete auf die Uhr. Er stand fix und fertig da, hatte einige Brote geschmiert und ein großes Stück Käse eingepackt, da es auf dieser Tour keine Hütte oder Einkehr gab. Mit der Kletterausrüstung im Gepäck strahlte er mit seinen glasklaren blauen Augen über das ganze bärtige Gesicht. „Unser Bus fährt in 20 Minuten, ich bitte um Beeilung“, lachte er und nahm Moni das Telefon weg. Er konnte es überhaupt nicht verstehen, dass man so einen engen Kontakt zu seinen erwachsenen Kindern hatte. Er war da ganz anders. Er selber hatte drei Jungs, die er als allein erziehender Vater, mithilfe von seiner Schwester groß gezogen hatte. Und zwar ohne dieses *Affentheater*, wie er die täglichen Gespräche von Moni und ihren Töchtern nannte, „Aber ich muss noch Lina erreichen, es liegt mit sehr am Herzen“. „Also gut, aber mach das bitte während der Busfahrt, es wird sonst zu spät.“
Sie saßen im Bus in Richtung Cortina d`Ampezzo, ihr Ziel war die Haltestelle am Hotel Drei Zinnen Blick, in der Nähe vom Dürrensee. Von da aus startete ihre Tour zum Monte Piano. Moni hatte genug Zeit, um mit Lina zu telefonieren. Diese meldete sich mit ihrer leisen Depri-Stimme „Jaaaaa, Mami, was isch los“. Moni verdrehte die Augen und versuchte, doppelt so gut gelaunt zu antworten: „Ich habe an dich gedacht und wollte dir sagen, dass ich dich lieb habe. Heute besteigen wir einen Berg zu Fuß, ohne Seilbahn und ohne fremde Hilfe. Drück mir bitte die Daumen, dass ich es schaffe.“ Nun lachte Lina, „Cool Mudder, des isch doch subber. Wann kommsch du widder? I brauch Geld.“ Linas ausgeprägter schwäbischer Dialekt kam Moni während der Fahrt durch die Dolomiten besonders luschtig vor. Aber sie ärgerte sich natürlich über diese Worte. Scheinbar war es nur Spaß von Lina. Sie beendeten das Gespräch und Moni fragte sich selber, warum sie sich das fast täglich antat.
Vor ein paar Jahren hatte Lina sie zur Oma gemacht. Inzwischen war Moni stolze Besitzerin zweier Enkel. Gerhard war inzwischen vier und Irene drei Jahre alt. Beide Kinder hatten verschiedene Väter und Lina wohnte mit keinem davon zusammen. Sie wohnte mit Flo, dem Zimmermann, auf einem Bio-Bauernhof, wo die Kühe ihre Hörner behalten durften, zusammen mit zwei Wachhunden, fünf Hühner und einer ganzen Meute Gänse im Haus der Oma. Aber auch dort war die Welt nicht in Ordnung. Doch das sah man erst auf den zweiten Blick.
Ihr Leben war kompliziert und anstrengend, deshalb benötigte Moni den Urlaub und den Abstand doppelt und dreifach. Jetzt galt es nur noch, dieses ungute Gefühl los zu werden.