Die Enttäuschung war groß, als die Familie sah, dass Moni immer noch nicht aufgewacht war. Lina musste weinen, sie sah ihre Mutter zum ersten Mal seit Wochen. „Oh menno, die isch ja ganz abgmagerd. Ne ne ne, wo isch mei Muader?“ Uta verdrehte die Augen, sie selbst fühlte sich genauso schwach und genervt. Wie immer war Otto der Fels in der Brandung, dieser kümmerte sich um die Frauen und tröstete sie.
Senior-Chefarzt Dr. Georg Ortner kam zu den Angehörigen, brachte sie auf den neusten Stand. Die Amputationswunde heilte sehr gut, ebenso die anderen Verletzungen sowie die Knochenbrüche. Lediglich das Aufwachen fehlte noch. Der Arzt erklärte, dass es eine Art Zwischen-Dimension gäbe. Die Stufe eins des Wachkomas, die Patienten wachen nicht ganz auf, weil es doch kleinere Komplikationen oder Entzündungen durch die Kopfverletzung gab. Oder aber das Narkosemittel wurde nicht vertragen, diese Patienten würden festhängen. Jeder Mensch benötigte seine ganz persönliche Zeit dafür. Dr. Ortner versprach Monis Familie, dass sie alles tun würden, damit Frau Häberle bald aufwachen würde.
Uta streichelte Moni die ganze Zeit, Lina sang ihr Lieder vor, während Klara sich um die Blumensträuße kümmerte. Otto ging los, um Käthe zu suchen.
Diese saß mit Kim in der Cafeteria und fühlte sich besser, kaum dass sie das süße Mädchen sah. Nach einer langen Umarmung schaute Kim sich ihre neue Bekanntschaft lange an. „Na du siehst heut aber mitgenommen aus, erzähl!“ Und tatsächlich konnte sich Käthe öffnen und schilderte ihre aktuelle Lage. Kim erkannte erst jetzt, dass es Käthe nicht nur wegen des Unfalles ihrer Mutter schlecht ging. Irgendwann nickte sie verständnisvoll, dann stand sie auf, drückte Käthe und versprach ihr, sie wäre ab jetzt immer für sie da. Käthe war unglaublich dankbar. Sie bat Kim, auch ein wenig von sich zu erzählen, so erfuhr sie, dass es auch Kim nicht leicht hatte. Auch sie hatte eine kranke Mutter, Diabetes im fortgeschrittenen Stadium. Als Otto die Mädchen entdeckte, hatten sie ihre Tassen leer getrunken und verabschiedeten sich.
„Hallo ihr zwei Hübschen“ zwinkerte der Charmeur den Mädels zu, Käthe sprang auf und nahm ihren Onkel in den Arm. Die Freude war groß, auch Kim freute sich für ihre Freundin. Sie musste nun heim zu ihrer Mutter, da der Bruder krank war. Er wäre eigentlich dieses Wochenende mit der Betreuung dran.
Käthe begrüßte auch den Rest ihrer Familie, irgendwie freute sie sich, dass Lina dabei war. Die Schwestern weinten sehr, als sie sich in den Armen lagen. Nach ein paar Stunden bei Moni gingen alle zum vereinbarten Abendessen. Vielleicht würde Moni morgen aufwachen?
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Olga und Rita standen seit Stunden in der Küche. Das letzte Wochenende für den Hofausschank des Jahres stand an. Es würde ein richtiges Fest geben. Rita hatte zwei Kuchen und drei Bauernbrote gebacken, Olga spülte und räumte auf. Ein schwäbischer Hefezopf lag in der Tiefkühltruhe, den hatte Käthe vorbereitet. Georg fehlte schon wieder, Rita war darüber nicht erfreut. Aaron vermisste Käthe, suchte sie im ganzen Haus. Passte aber auf die zwei Damen in der Küche auf. Tina und Max hatten versprochen zu helfen, sie dekorierte die Bänke und Tische. Das letzte Wochenende war immer besonders schön. Da spielte Musik und die örtliche Trachtengruppe tanzte dazu. Auf Käthes Drängen hatte Olga auch den neuen Orgelspieler zu der Feier eingeladen, daher war sie sehr aufgeregt.
Für den heutigen Tag spielte Olga Babysitterin. Erst morgen musste sie beim Ausschank helfen. Fröhlich lief sie zum Nachbarhof, freute sich sehr auf Linus und Lara, sie liebte die Kinder abgöttisch. Schon von weitem war das Lachen der Kleinen zu hören. Gab es etwas Schöneres?
Sie schaute auch bei den Welpen vorbei. Alle waren gesund und munter, schliefen aber noch fast den ganzen Tag. Die Hundeeltern kümmerten sich liebevoll um ihren Nachwuchs. Tina lächelte zu Olga, „Was denkst du, würde sich Käthe über so einen kleinen Bengel freuen?“ Olga antwortete schüchtern: „Da bin ich mir nicht sicher, sie liebt doch Aaron.“
Es wurde ein erfolgreiches Wochenende. Das Wetter hätte zwar besser sein können, doch die Menschen aus dem Dorf, und den umliegenden Höfen, sowie auch viele Urlaubsgäste, kamen und feierten zwei Tage lang. Rita vermisste ihren Georg, gleichzeitig war sie aber sehr stolz auf ihn. Er wurde immer noch als Arzt gebraucht, hatte noch immer seine Patienten. Er war so fleißig. Dabei kümmerte er sich genauso um die Familie und um den Hof. Noch dazu um hilfebedürftige junge Mädchen. Das jedoch war ihr ein Dorn im Auge.
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An diesem Wochenende änderte sich bei Moni nicht viel. Sie schlief tief und fest. Manchmal zuckten ihre Finger oder sogar die ganze Hand. Dr. Uwe Ortner erklärte den Angehörigen noch einmal die unterschiedlichen Stufen des Komas. Nachmittags machte die Familie einen lange Spaziergänge, abends saßen sie in Monis Zimmer zusammen und redeten. Käthe ging es wieder ein wenig besser.
Zum Abschied am Sonntag setzte sich Lina ein letztes Mal auf das Bett, nahm die Hand ihrer Mutter und erzählte von Gerhard und Irene. Plötzlich kamen zwei Schwestern herbeigerannt, auf dem Überwachungsmonitor hatten sie den erhöhten Puls der Patientin entdeckt. Sie riefen den Arzt. Uwe leuchtete in Monis Pupillen, tatsächlich zogen sie sich kaum sichtbar ein wenig zusammen. Fröhlich verkündete er: „Die ersten Zeichen des Aufwachens sind da.“ Es tat ihm zwar ein wenig leid, doch er drosselte die Höhe der Schmerzmittel, auch dieser Reiz könnte ein Aufwachen bewirken. Uta und Klara waren sehr traurig, dass sie nun zurückfahren mussten.
Georg nahm Käthe am Abend mit nach Montan. Rita hatte ihn gebeten, für ein paar Tage auf den Hof zu kommen. Uwe gab ihm frei, dafür hatte sein Oberarzt Victor ihm versprochen, die Tagschicht zu übernehmen.
Georg wäre sicher nicht nach Hause gefahren, hätte er gewusst, dass sein Sohn jede Nacht betrunken in Monis Zimmer übernachtete.
Das Nichts wurde laut und hell. Es verbreitete furchtbare Angst. Überall Schmerzen, Hämmern, Pochen, zuckende Blitze.
Nadelstiche überall!
Tausend Hände griffen nach ihr, zogen sie hin und her, hoch und runter. Es tat so unheimlich weh. Die Geräusche waren furchtbar laut! Sie wollte sich befreien, wollte ihre Ruhe. Zurück in die sanften Wellen des schwebenden Nebels. Sie hatte keine Chance. Sie musste nun endlich ihre Hände finden, damit sie sich festhalten konnte. Auch ein Mund hatte sie nicht, sonst könnte sie schreien. Aber sie hörte nichts, sie konnte auch nichts sehen. Sie fühlte nur die Schmerzen. Dann wartete sie auf die Wolken, die sie mitnahmen in das Reich der Träume. Das Nichts hatte sich aufgelöst, aber sie war noch nicht bereit.