Natürlich gefiel es Lina und den Kindern wunderbar auf dem Hof. Die Kleinen tobten entweder mit Lara und Linus draußen und verbrachten viel Zeit bei den Tieren. Oder sie waren mit Olga und Tina im Bastelzimmer beschäftigt. Auch die kleine Irene kam auf ihre Kosten, denn Lara beschützte und umsorgte sie wie eine Puppenmama. Lina hatte viel Freizeit und genoss die Spaziergänge mit Käthe. Die Ruhe auf dem Dorf tat auch ihr gut. Keine Termine und keine Erwartungen. Samstags fuhren Käthe und Lina mit dem Bus nach Innsbruck. Olga spielte Ersatzmama, strahlte über ihr schiefes Gesicht und war in ihrem Element. Max hatte versprochen mit den Kleinen zu den Pferden zu gehen.
Die Schwestern bummelten durch die Innsbrucker Innenstadt und kauften sich Winterklamotten, kleine Andenken und einige moderne Accessoires. „Mensch Käthe, du hast doch abgenommen, oder?“ Lina betrachtete ein wenig neidisch ihre große Schwester. „Meinst du?“ Käthe zuckte mit den Schultern. Das war doch egal, oder. Es war viel wichtiger, dass ihr psychisch wieder besser ging. Sie steuerten auf ein Café zu, denn sie wollten sich zum Abschluss ein Stück Torte gönnen. Die Tür sprang auf und heraus trat Dr. Uwe Ortner. Sie begrüßten sich überrascht aber herzlich und freundlich. Der Arzt nahm die Mädels überschwänglich in den Arm. „Wie schön euch zu sehen. So ein Zufall“, grinste Uwe, „Geht es euch gut?“ Beide nickten eifrig und fragten ganz beiläufig, ob er denn frei hätte. „Ja, Oberarzt Victor übernimmt für mich das Wochenende. So habe ich endlich Zeit meinen Freund mitsamt Familie in Toblach zu besuchen“. Uwe hob eine Papiertüte in die Höhe. "Wie ihr seht, werden sie von mir kulinarisch verwöhnt.“
„Toblach?“ Käthe war skeptisch, „Ist das nicht der Ort, wo die Mama verunglückt ist? Das ist doch voll weit weg, oder nicht?
„Eigentlich nicht, wenn alles gut läuft, ist man in zwei Stunden dort. Geht eigentlich“.
„Also dann viel Spaß, wir gehen nachher zu Mama“. „Ja wunderbar! Da wird sie sich freuen, Käthe wir sehen uns am Montag früh beim Termin. Machts gut ihr zwei.“
Damit lief er beschwingt in Richtung Parkhaus. Von weitem sah er eine Frau, zwar nur von hinten, erschrak dennoch und blieb kurz stehen. War das womöglich Susan? Er spürte, wie sofort schlechte Laune in ihm hochstieg, versuchte die negativen Gedanken abzuschütteln und stieg in seinen Wagen. Schnell weg von hier.
Er freute sich jetzt auf seinen Freund, auf das schöne Südtirol und steuerte das Auto auf die Brenner-Autobahn. Er dachte noch eine ganze Weile über die vergangenen Wochen nach. Nachdem er die Franzenfeste passiert hatte, verließ er die Autobahn an der Mautstelle Brixen-Pustertal und fuhr weiter Richtung Toblach. Das Autofahren machte ihm heute richtig Spaß. Mit seiner Luxus Limousine, einem Mercedes S-Klasse, fuhr er viel zu selten, durch seinen ständigen Zeitmangel war das oft nur an den Wochenenden möglich. So stand der Wagen wochenlang in der Tiefgarage des Krankenhauses. Erst vor kurzem hatte er den Gedanken gefasst, das Auto zu verkaufen. Um so glücklicher war er heute und fühlte sich frei, wie schon lange nicht mehr. Dann dachte er plötzlich an Moni, wie gerne hätte er sie neben sich sitzen. Doch auch diesen Gedanken schüttelte er schnell wieder ab.
Er freute sich auf den Abend, den sie im historisch-romantischen Restaurant Winkelkeller verbringen wollten. Hier konnte man auserlesene Weine in originalen Stuben und gotischen Gewölben aus dem 17. Jahrhundert und natürlich ursprüngliche Tiroler Kost nach traditionellen Rezepten und Zutaten genießen. Das Restaurant lag mitten in der Stadt, nur wenige Gehminuten vom Haus seines Freundes entfernt.
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Moni hatte nach einem leckeren Mittagessen, einem deftigen Eintopf, gut geschlafen und absolvierte ihre Übungen. Es war ein trüber Herbsttag, insgeheim freute sie sich darauf, dass es hier in Innsbruck bestimmt bald schneien würde. Schnee war in ihrer Heimat schon seit vielen Jahren rar geworden. Die kleine schwäbische Gemeinde am Neckar lag einfach nicht hoch genug.
Der Oberarzt Victor kam vorbei, sah nach den Verbänden und fragte freundlich nach ihrem Befinden. „Heute spüre ich ziemliche Schmerzen am rechten Fuß, ganz unten. Und Kopfschmerzen habe ich auch, aber sonst, naja, es geht so.“ Victor nickte und brachte eine Infusionsflasche an. Ich gebe noch ein wenig Schmerzmittel dazu, ganz nach dem erstellten Bedarfsplan vom Chef“. Moni nickte und fragte nach einer Schwester, die sie auf die Toilette begleiten würde. Das war immer noch ein sehr schwieriger und schmerzhafter Weg. Vor allem war es im Moment der einzige Weg, den sie zurücklegen sollte und durfte.
Voller Erwartung lag sie nach der Anstrengung wieder in ihrem Bett und sah auf ihr Handy. Pünktlich klopfte es an der Tür und ihre Töchter kamen zu Besuch. Sie hatten ein Stück Torte und ein paar Kleinigkeiten aus der Stadt mitgebracht. Nach ausgiebigen Kuschelattacken verbrachten die drei Frauen einen gemütlichen Nachmittag mit Kaffee und Tee. Die Mädels erzählten von Montan, den lieben Menschen, die dort lebten und von den Tieren. Gerne würde sie ebenfalls einen Besuch dort machen. Sogar Lina gefiel es richtig gut. „Schtell dir vor, Muader, die Olga, die kümmert sich so richtich gern um die Kloinen. Für mi isch des subber, wie Urlaub halt, gell.“ Moni nickte lächelnd und war froh, dass es beiden im Moment so gut ging. „Schön“. Abwechselnd saßen die Mädels neben ihrer Mutter auf dem Bett und hielten ihre Hand. Heute vermieden sie das Thema Herbert bewusst, sie konnten sogar miteinander lachen, denn Lina hatte immer wieder einen witzigen Einfall.
Kim kam vorbei und holte Käthe für einen kleinen Spaziergang ab. Lina genoss die Zeit alleine mit ihrer Mama. Sie sang ihr neue Songs vor, einen davon hatte sie selber komponiert und getextet. Moni war stolz auf ihre Jüngste, obwohl es sich um ein schnulziges, langweiliges Liebeslied handelte. Erst sehr spät verabschiedeten sich Käthe und Lina und nahmen den letzten Bus, der an diesem Abend nach Montan fuhr. Schon morgen Nachmittag würden sie wieder kommen. Glücklich kuschelte sich Moni ins Bett, nebenher lief eine Quizsendung im Fernseher.
Kurz bevor sie einschlief, dachte sie an Uwe. Täglich war er abends hier bei ihr gewesen, manchmal sogar die komplette Nacht. Er hatte ihr sein ganzes Leben erzählt, sein Herz ausgeschüttet und ihr seine intimsten Wünsche anvertraut. Er hatte ihr aus den Krankenblättern seiner Patienten vorgelesen. Hatte sie um Rat gefragt, obwohl er wusste, dass er keine Antwort erhielt. Manchmal hatte er auch geweint, sogar richtig laut geschluchzt. Für Moni war dieser Arzt der beste Mensch, den sie jemals kennengelernt hatte. Uwe hatte sich zwar dreimal heute Morgen bei verabschiedet, doch jetzt vermisste sie ihn. Sie fühlte sich einsam.
Dann dachte sie an ihren geliebten Herbert und musste weinen.