Victor erreichte Georg erst kurz bevor er in den OP ging. Nachdem er ihm die Vorkommnisse der Nacht geschildert hatte, meinte Georg betreten: „Am besten ich komme in die Klinik. Muss mich um meinen Bub kümmern. Danke für den Anruf.“ Ursprünglich wollte Uwe heute nach Montan kommen auf einen kleinen Besuch, er Käthe abgeholt. Jetzt musste alles neu organisiert werden. Georg setzte Rita in Kenntnis, ging zu Franz und gemeinsam misteten sie den Stall aus. Franz hatte immer von Samstags Mittag bis Sonntag Abend frei. Max und Tina würden das Melken heute übernehmen.
Georg ging zu Käthes Zimmer, aber als er mehrmals an ihre Tür klopfte, blieb es ruhig. Vorsichtig öffnete er die Tür einen Spalt und rief ein paar Mal ihren Namen. „Käthe, ich fahr nach Innsbruck, komm ich nehm dich mit.“ Scheinbar schlief sie tief und fest. Er seufze, blickte auf seine Uhr und zuckte mit den Schultern. Rita stand inzwischen hinter ihm und flüsterte: „Mein Lieber, das Mädel scheint wirklich Ruhe zu brauchen, Olga und ich kümmern uns um sie. Mach dir keine Sorgen.“ Georg nahm seine Rita sanft in den Arm. Sie küssten sich liebevoll.
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Im Operationssaal stand Victor bereits mit seinem Skalpell bereit. Er konnte genauso gut wie Uwe innerhalb weniger Minuten höchste Konzentration erlangen und alles andere komplett ausschalten und hochkonzentriert arbeiten. Gleich würde er die Minoramputation durchführen. Der rechte Fuß wurde zusätzlich örtlich betäubt, dadurch treten Phantomschmerzen seltener auf. Monis körperlicher Zustand war optimal, sie würde die notwendige Operation bestimmt gut überstehen.
Auch ohne die beiden Zehen würde die Frau aus dem Schwabenland wieder laufen können. Victor benötigte pro Zeh nur 25 Minuten, es war kein großer Eingriff. Zum Schluss legte er über die kleinen Stümpfe einen Hautlappen und vernähte diesen, damit keine Keime in die Wunde eindringen können. Mit dem Narkosearzt wurde vereinbart, dass Moni noch einige Stunden im künstlichen Koma bleiben sollte. Uwe würde heute Mittag übernehmen. Der Oberarzt dankte seinem Team und ging sich waschen.
Mit seinen zwei Assistenzärzten absolvierte er die Visite. Schwester Maria hatte an diesem Wochenende Frühdienst und Kim Spätdienst. Beide waren für Monis Pflege eingeteilt. Maria las in ihrer Kranken-Akte die neuen Einträge, ging danach zu ihr in den Aufwachraum, kontrollierte alle Werte und machte sich auf die Suche nach Uwe.
Als Häufchen Elend fand sie ihn im Stationszimmer vor einem Pott Kaffee. „Guten Morgen Chef,“ flötete sie freundlich wie immer und setzte sich neben ihn. „Hi“, war das Einzige, was Uwe sagen konnte. Dieser mixte sich gerade Magnesium, Kalium und Vitamin C in ein Glas, schluckte dazu zwei Aspirin. Maria war mehr als erstaunt. Sie setzte sich neben ihn, lächelte ihm vorsichtig zu. „Keinen guten Tag erwischt heute?“ Uwe schüttelte den Kopf und stand auf. Die Situation war ihm einfach furchtbar peinlich. Er hatte einen totalen Filmriss, Mörderkopfschmerzen und konnte nur hoffen, dass er nichts angestellt hatte, was er jetzt bereuen könnte.
Mit Victor traf sich der Chefarzt in der Kantine. Es war 14 Uhr, bald würden die Angehörigen von Moni kommen. Bis dahin wollte er wieder fit und gut gelaunt sein. Er aß langsam eine Nudelsuppe mit Weißbrot. Victor berichtete ihm von der Nacht, auch dass er lediglich viel zu viel gesoffen hatte. Zu weiteren Handlungen wäre er nicht in der Lage gewesen. Das hatte für Uwe zwar etwas Beruhigendes, aber auch gleichzeitig Erschreckendes. Er ekelte sich vor sich selber. Victor versicherte ihm, er würde mit niemandem darüber reden. Danach machten sie eine Art Übergabe, Victor brachte ihn auf den neuesten Stand aller Patienten.
Kurz darauf kam Georg mit einem sehr besorgten Gesichtsausdruck. Uwe schämte sich dermaßen, dass er errötete. Victor stand auf und Uwe erkundigte sich zuerst nach Käthe. Dann erzählte er seinem Vater die Sorgen und den Kummer wegen Susan. Zum Schluss berichtete er kurz und knapp, was vergangene Nacht geschehen war. Georg blickte ihn ernst an und versprach ihm Hilfe bei der Stationsarbeit.
„Auf gehts! Hoppa!“
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Käthe hatte sich nur schlafend gestellt, denn sie wollte partout nicht zu der Familie. Sie hatte keinen Bock auf diese ständigen, blöden Fragen oder gar Vorwürfe von ihrer Tante. Sie wollte alleine sein und nachdenken. Einfach ihre Ruhe haben. Deswegen packte sie ihren Rucksack mit Kekse, Cola und den Zigaretten, schnappte ihren Klarinettenkoffer und ging nach unten. Rita und Olga standen wie Soldaten vor der Küche und starrten sie an. „Oh, du bist ja wach. Wohin geht es denn?“ Rita war sehr erstaunt.
„Ich möchte alleine sein. Einen Spaziergang machen. Wenn ich darf.“
Da sprang auch schon Aaron kläffend herbei und wollte von Käthe gestreichelt werden. „Ok, dich nehme ich mit.“ Rita nickte, Olga stand nur schüchtern hinter ihr. Ganz leise fragte sie: „Käthe, hast du Schmutzwäsche? Ich würde sie für dich waschen.“ Käthe war sehr überrascht. „Echt jetzt? Das würdest du für mich tun?“ Olga nickte stolz. „Mhmmm“.
Käthe musste Aaron an die Leine nehmen und versprechen, nicht in den Wald zu gehen. Sie wollte sowieso ins Dorf laufen und sich dort umsehen. Sie kamen automatisch am Wagnerhof vorbei. Da bellte der Schäferhund wild. Tina stand draußen bei den Hühnern, die beiden Frauen winkten sich zu. „Käthe, kommst du uns besuchen? Möchtest du nach den Welpen schauen?“ „Nein, heute nicht“.
Nach nur zehn Minuten Fußmarsch konnte Käthe von weitem die Kirche erkennen. Sie blieb stehen, schaute sich um und holte tief Luft. Hier war sie zwar auch mitten in der Pampa, doch sie fühlte sich frei. Vogelfrei. Was für ein wunderbares Gefühl.
Weiter vorne sah sie einen weiteren Bauernhof, davor eine schöne Holzbank. Hier packte sie ihre Klarinette aus und spielte ihre Lieblingsstücke. Aaron saß vor ihr mit geneigtem Kopf, er war ein guter Zuhörer. Käthe musste schmunzeln und streichelte den Hund. Sie rauchte ein paar Zigaretten und marschierten dann weiter zum Dorf. Es war Samstag Nachmittag und nicht viel los. Käthe lief durch die wenigen Straßen mit den hübschen und typischen alpinen Holz-Häusern und fand eine Bushaltestelle. Sie fotografierte den Fahrplan ab und schoss einige Fotos vom Dorf mit der schönen Kirche und der bergigen Landschaft für ihre Mutter. Sie entdeckte sogar einen Friseur mit Kosmetik- und Wellnessabteilung. Sie kamen zu einer großen Wiese, dem Festplatz es Dorfes, mit Spielplatz und einem grandiosen Ausblick. Von weitem sah sie das Schild mit dem Hinweis des Biohotels. Die Ortschaft zog sie weit auseinander, doch für heute hatte sie jedoch genug gesehen.
Da erblickte sie eine Art Tante Emma Laden. Eine ältere Dame wollte gerade die Tür abschließen, als sie Käthe sah.
„Servus, möchten Sie noch was einkaufen? Ach, ist das nicht Aaron?“. Nickend band sie die Leine des Hundes an das Geländer und trat ein. Sie nahm sich eine Cola und schaute sich in Ruhe um. Hier konnte man sich vor allem mit den Produkten der heimischen Bauern eindecken. Die meisten Lebensmittel waren im Glas zu kaufen oder gänzlich unverpackt, man verzichtete hier bewusst auf Plastik und unnötiges Verpackungsmaterial. Sie musste sofort an ihre Mutter denken, das würde ihr hervorragend gefallen. Weiter hinten in einer Nische war eine Poststelle untergebracht. Zeitschriften, Bücher, Stifte und Hefte, sowie die nötigsten Kurzwaren waren ebenfalls zu erwerben. Der Dorfladen gefiel Käthe richtig gut. Beim Bezahlen erzählte sie der Frau, dass sie auf dem Huberhof zu Gast sei. Zum Schluss fotografierte sie das Schild mit den Öffnungszeiten. Zigaretten gab es keine, die müsste sie am Automaten im Gasthof zum goldenen Hirsch kaufen oder unten an der Tankstelle, die ungefähr 3 km entfernt war. Mit diesen neuen Erkenntnissen machten sie sich langsam auf den Rückweg. Aaron freute sich, er kannte den Weg und zog Käthe hinter sich her.