Als Uwe später nach Moni sah, schlief diese tief und fest. Schließlich war der Tag für sie anstrengend gewesen, doch war er auch ein wenig traurig darüber. So ging er endlich mal in seine neue Wohnung. Hier war noch überhaupt nichts eingerichtet. Die Helfer hatte Klamotten und viele Utensilien schnell in die eine oder andere Ecke gelegt. Genervt blickte er sich um, zumindest das Bett sollte er freischaufeln. Den Musikstick von Moni hatte er in der Tasche, nun steckte er ihn in das Fernsehgerät, drehte die Boxen auf und schenkte sich ein Glas Rotwein ein. Während die Gruppe Abba ihren Song Ring Ring trällerten, riss er alle Fenster und die große Terrassentür auf. Dann öffnete er vorsichtig den Kühlschrank, natürlich hatte er nicht eingekauft. Ein abgelaufener Joghurt, eine schrumpelige Zitrone, Marmelade und ein Glas Cornichons war der klägliche Inhalt. Laut schimpfte er mit sich selber, „Ahhhh, das ist also der Kühlschrank eines Chefarztes.“ Er trank den Wein in einem Zug leer und schenkte sich direkt nach. Inzwischen war er froh, dass er kein Whiskey hier hatte. In einem Schrank fand er eine Packung Kekse. Die Köstlichkeiten von Rita hatte er allesamt in dem Patienten Kühlschrank auf Station für Moni gelagert.
Aus dem Lautsprecher ertönte ein ihm unbekanntes Instrumental- Techno Lied, während er sich auszog und nackt durch die Wohnung spazierte. Er dachte an die zurückliegenden Stunden auf dem Hof, an Moni und ihre Familie, auch an seine eigene. Die letzten Tage und die vergangenen Wochen waren nicht einfach. Nun kamen die Erinnerungen an Susan, sofort stieg eine große Wut in ihm hoch. Er stellte sich unter die eiskalte Dusche. Schnell zog er sich Boxershorts an und räumte tatsächlich auf. Als er seine Aktion zufrieden beendete, schenkte er sich den Rest der Flasche ein, legte sich auf das Sofa und die Füße auf den Tisch. Gespannt hörte er auf den Text des brüllenden Sängers von In Extremo – der Titel des Liedes hieß Küss mich und Uwe sang es schon beim dritten Mal kräftig mit:
Ich weiß, ich weiß wie du heißt
Ich weiß, ich weiß was du treibst
Kann nicht mehr schlafen, kann nichts mehr essen
Ich bin von deinem Anblick besessen
Ich weiß, ich weiß wie du fühlst
Ich weiß, ich weiß wann du lügst
Durch das Schlüsselloch werd ich mich schleichen
Um in deine Seele zu beißen
Mein Geist schwebt über dir
Du kannst mich retten mit ‚nem Kuss von dir
Küss mich
Küss mich
Küss mich nur einmal
Er hatte das Gefühl, dieses Lied hatte man für ihn getextet, beschwingt öffnete er eine zweite Flasche Wein. Ein Blick auf sein Handy sagte ihm, dass es Mitternacht war und er schlafen sollte. Doch morgen hatte er seinen freien Tag, also genoss er die gute Stimmung. Seine Gedanken kreisten inzwischen nur noch um Moni, er spürte Sehnsucht in sich. Diese Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Zweisamkeit raubte ihm schier den Verstand. Dieses Gefühl war auf der einen Seite wunderbar, doch er konnte es nicht ausleben. Noch nicht. Traurig und verzweifelt schüttete er den Rest der Flasche in den Abfluss. Die Erkenntnis blieb, er hatte sich so richtig verliebt. Wie konnte das passieren? Eingekuschelt lag er lächelnd im Bett und träumte wunderschöne Dinge.
***
Gestresst und genervt rutschte Lina auf ihrem Sitz hin und her. Draußen standen Käthe, Olga, Rita und Tina und winkten ihn traurig zu. Aaron sprang aufgeregt umher und bellte laut. Georg hatte Lina frühmorgens beim Packen geholfen, jetzt saßen sie pünktlich im Auto. Die Kinder schauten aus dem Fenster ins Dunkle, sie waren noch müde und auch traurig. „Na, freut ihr euch schon auf das Zug fahren? Und auf eure Spielsachen zuhause?“ Georg schaffte es wie immer, Situationen sowie Stimmungen zu erkennen und ins gute Licht zu rücken.
„I frei mi uf de Flo un uf mei eigenes Bed.“ Lina schwäbelte extrem, Georg musste immer genau zuhören, um sie zu verstehen. Er lachte, „Zuhause ist es eben auch schön, gell? Ihr seid immer auf unserem Hof willkommen. Wir sehen uns spätestens an Weihnachten, ok?“ Die Kleinen nickten und lachten fröhlich.
Am Bahnhof in Innsbruck verabschiedete Georg die kleine Familie herzlichst. Aus dem Kofferraum beförderte er drei Beutel mit Proviant und Getränke. „Ich wünsche euch eine ganz gute Heimreise, richtet liebe Grüße aus an die Verwandtschaft und bis bald. Es freut mich sehr, euch kennengelernt zu haben. Lina, wenn du meine Hilfe benötigst, ruf mich an, ja?“ „Dange, dange für alles, gelle“, ein paar Tränen kullerten bei Lina, dann huschten sie zügig in das für sie reservierte Abteil. Fröhlich lachten Gerhard und Irene, sie klopften an die Fenster und warfen Georg Küsse zu. Der Zug fuhr pünktlich um 08:00 Uhr los, die Fahrt ging bis nach Stuttgart, da wurde Lina von ihrem Vater abgeholt. So konnte sie die nächsten Stunden in aller Ruhe genießen, sich um die Kleinen kümmern oder mit ihnen spielen, denn sie mussten kein einziges Mal umsteigen.
Georg fuhr gleich weiter in die Klinik, er hatte einige Gespräche mit Familien von Langzeit-Komapatienten. Außerdem musste er etlichen Schreibkram erledigen und wollte natürlich Uwe zur Hand gehen. Bis jetzt war noch kein Ersatz für Peter gefunden, sie brauchten dringend eine Idee. Denn einen guten Hirnchirurg zu finden, ist nicht einfach, das hatte er bereits gewusst.
Auf Station angekommen, begrüßte er Victor und Schwester Maria, die bei der Vorbereitung der Visite waren. Gleich darauf ging er in sein Arbeitszimmer, schaltete den PC ein und wählte die Nummer von Uwe, doch er erreichte ihn nicht. Er nahm einen Stapel Unterlagen und lief hinaus in das Besprechungszimmer, hier wartete schon die erste Familie.
Uwe hatte schon einige Untersuchungen bei Moni durchgeführt. Er wollte den hämmernden Kopfschmerzen auf den Grund gehen. Nach einer erneuten Blutentnahme ordnete der Chefarzt zusätzlich nochmals eine Röntgenuntersuchung und ein MRT an. „Heute ist mein freier Tag, ich geh nachher in die Stadt, habe einiges zu erledigen. Hast du einen Wunsch? Gerne bring ich dir etwas mit.“ Moni überlegte lange. Sie war heute furchtbar müde und die Kopfschmerzen nervten sie unheimlich. „Mir fällt grad nix ein, aber danke. Das ist sehr freundlich von dir, du bist so lieb!“ Sie zwang sich zu einem Lächeln, suchte nach seiner Hand. „Alles klar, ruh dich heute aus, vielleicht kannst du noch einmal schlafen. Aber wenn es irgendwie geht, mach später ein paar Übungen, ja? Das ist wirklich wichtig für den Muskelaufbau, deinen Kreislauf, für deinen ganzen Bewegungsapparat!“ Zum Abschied küsste Uwe ihre Hand, zwinkerte ihr verschmitzt zu. "Bis später". Da erntete er dieses einzigartige, wunderbare Lächeln. Das zarte Funkeln in ihren Augen ließ ihn hoffen.
Beschwingt zog er den Arztkittel aus, nahm seinen kleinen Aktenkoffer und spazierte in Richtung Innenstadt. Es warteten wichtige Bankgeschäfte. Den Einkauf für das gemeinsame Wochenende mit Thommy würde er anschließend tätigen.
***
Eigentlich hatte Käthe mit nach Innsbruck fahren wollen. Georg hatte die wahnwitzige Idee, sie könne in der Klinikverwaltung helfen und sich dabei etwas verdienen. Ein paar Stunden Einarbeitungszeit und wenn ihr die Arbeit gefiel, würde er sie richtig einstellen. Mit Arbeitsvertrag und allem drum und dran. Käthe konnte diese Hilfe und Freundlichkeit immer noch nicht verstehen. Im Moment war keine Zeit für Depressionen oder gar schlechte Laune. Noch dazu wollte sie mit Kim zur Bandprobe, aber das hatten sie t auf nächste Woche verschoben.
Denn auch Elsbeth wollte sie einstellen. Als Sennerin in der Käserei. Nach der Morgenrunde mit Aaron und einigen Zigaretten, hatte sich Käthe umgezogen. Jetzt betrachtete sich kichernd im Spiegel. Elsbeth hatte ihr einen Karton gebracht, in dem alle wichtigen Utensilien für das Käsen enthalten waren. Auf ihrem Kopf thronte eine weiße Haube. Dazu trug sie einen weißen, langen sterilen Mantel-Umhang und sogar Handschuhe, die bis zu den Ellenbogen reichten. Ihre Füße steckten in kniehohen, dicken Gummistiefeln. Das A und O beim Käsemachen war die Hygiene, das hatte man ihr jetzt oft genug gesagt. Nun wartete sie gespannt auf die freundliche Dame aus dem Dorf.