Lina versuchte schon seit einer Stunde ihre Schwester ans Handy zu kriegen. Auch Lina wollte ihre Mutter besuchen und gemeinsam mit Paul am Sonntag nach Innsbruck fahren. Ohne die Kleinen natürlich, Flo würde auf sie aufpassen. Endlich klingelte ihr Telefon. „Hi, was ist los?“, fragte eine total kaputte und schläfrige Käthe.
„Ja also bidde, i will schließlich a wisse was Sache isch. Des isch au mei Mudder. Un i will ich a zu ihr. D Baba fährt mi morge“, knallte ihr Lina im schwäbischen Dialekt mit ihrer lauten Stimme an den Kopf. Käthe seufzte laut, aber sagte nichts. Stattdessen legte sie einfach auf, die hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie war sowieso schon genervt von den Menschen. Tamara hatte sich vorhin bei Käthe gemeldet, da es ihr selber gar nicht gut ging, konnte sie für ihre Freundin nicht da sein. Auch das war wie immer.
Käthe dachte wie schon so oft, es wäre besser, sie würde einfach nicht mehr leben. Niemand hatte für sie Zeit, die anderen waren mit sich selbst beschäftigt und sie fühlte sich so hilflos, einsam, unerwünscht und unverstanden. Sie ging auf den Balkon, rauchte und überlegte, ob sie hier runter springen sollte.
Georg wollte eigentlich endlich nach Montan fahren, er vermisste seine Rita und den Hof, schaute jedoch vorher noch bei den Angehörigen vorbei und wollte ihnen eine gute Nacht wünschen. Als er Käthe draußen auf dem Balkon sah, ging er zu ihr, nahm sie vorsichtig in den Arm. „Herrje, Mädchen, dir geht es gar nicht gut, was? Komm mit rein, möchtest du reden?“ Käthe schaute zu den anderen, „Ja, aber nicht da drinnen“.
So gingen sie in den Nebenraum, unterwegs holten sie Kaffee aus dem Automaten und Georg nahm sich alle Zeit der Welt. Käthe schüttete ihm ihr Herz aus, erzählte von ihrer Krankheit, von der Einrichtung in der sie nun lebte, von ihrem unglücklichen Leben und auch von ihren Wünschen und Träumen. Georg betrachtete das niedliche Mädchen. Sie war ungefähr 1,60 m, etwas mollig, hatte riesengroße blaue Augen, eine kleine Stupsnase, viele süße Sommersprossen und war ganz ungeschminkt. Ihre langen braunen Haare hatte sie zu einem altmodischen Dutt hochgesteckt. Er hätte niemals gedacht, dass Käthe schon 26 Jahre alt ist. Sie wirkte so jung und unschuldig, so zerbrechlich.
Georg nahm nochmals Käthe Hand in seine und flüsterte verständnisvoll: „Käthe hör gut zu, ich komme morgen Abend nochmal vorbei, dann können wir weiter reden. Ich kümmere mich um ein Zimmer für dich, so dass du vorerst hier bleiben kannst. In der Nähe von deiner Mutter und von mir. Ich kenne einen hervorragenden Therapeuten und auch einen Psychiater, welche dir helfen können, das verspreche ich dir.“ Käthes Tränen waren versiegt, es war keine Einzige mehr übrig. Langsam und dankbar ging sie zurück, legt sich auf eine der bequemen Liegen und konnte tatsächlich einschlafen.
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Es war mitten in der Nacht, als Georg auf dem Hof in Montan ankam, er war jetzt vier Tage weggewesen. Die Fahrt von der Klinik dauerte eine dreiviertel Stunde. Er konnte Aaron kläffen hören und schlich sich leise ins Haus. Doch Rita und der Hund standen schon hinter der Haustür, freuten sich sehr. Die alte Dame nahm Georg in den Arm, während dieser seinen Schäferhund streichelte. Gemeinsam gingen sie in die Küche. Georg erzählte ihr von den letzten Tagen, von Uwe und Susan und von Käthe. Ritas Wangen röteten sich, „Georg, bringst du noch ein Mädchen auf den Hof? Da werde ich langsam eifersüchtig“, doch sie lächelte sanft. Und Georg auch, er nahm seine Rita in seine starken Arme. „Ja, vielleicht, mal sehen. Wir hätten ja genug Platz. Aber du sollst wissen, für mich gibt es nur dich“, dann küssten sie sich zum ersten Mal, tief und innig und ziemlich lang. Rita war so glücklich und dankbar, dass er tatsächlich so fühlte wie sie. Was für eine schöne Nacht.
Georg war nicht nur ein erfolgreicher und hervorragender Gehirnchirurg im Ruhestand, sondern auch ein sehr attraktiver, inzwischen 70- jähriger Mann mit strahlend blauen, gutmütigen Augen. Er sah verdammt gut aus, erinnerte ein wenig an den Schauspieler Terence Hill. Nur hatte Georg einen grauen wuscheligen Lockenkopf und vor allem hatte er Charisma.
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Am nächsten Tag durften die Angehörigen von weitem durch ein Fenster nach Moni sehen. Ihr Zustand war unverändert, jedoch stabil. Die Blutwerte waren in Ordnung, auch die Vitalwerte waren erstaunlich gut nach all den Operationen und Verletzungen. Es gab noch ein weiteres Gespräch mit dem Arzt. Dr. Uwe Ortner gab der Familie seine Durchwahl und gab an, dass er täglich von 16.00 bis 17.30 Uhr Telefon-Sprechzeiten habe. Sie bekamen eine PIN-Nummer, mit der sie sich an der Zentrale anmelden mussten. Gerne dürften sie aber auch E-Mails schreiben. Einmal täglich würde er diese beantworten.
Mittags kamen Lina und Paul in der Klinik an und es wurde wieder geweint und getrauert. Käthe hatte sich auf einen langen Spaziergang um das Klinikgelände gemacht. Den Klarinettenkoffer hatte sie dabei und war auf der Suche nach einer Bank. Sie konnte ihre Familie nicht mehr ertragen, schon gar nicht ihre Schwester und wollte alleine sein. Alleine mit der Musik. Gegen Abend fuhren alle wieder Richtung Schwabenland – nur Käthe blieb. Sie hatte sich mächtig gestritten mit ihrer Tante Uta, ihrem Vater und mit ihrer Schwester. Sie würde definitiv hierbleiben! Georg hatte vorübergehend eines der Bereitschaftszimmer für Käthe organisiert. Die kleine Teeküche, den Aufenthaltsraum und die Dusche durfte sie selbstverständlich auch benutzen. Sie würde später noch ein gemeinsames Gespräch mit Dr. Uwe Ortner und seinem Vater haben.
Aus der hintersten Ecke des Krankenhaus-Parks erklangen die Töne einer Klarinette, sie spielte Bach, Sarabande aus der 5. Cellosuite in C-Moll.
Traurig
Melancholisch
Käthe liebte es, Bach auf der Klarinette zu spielen. Unüblich? Klar. Sie fand es toll, genau wie ihre Mutter gegen den Strom zu schwimmen. Sie hatte beschlossen, dass sie jetzt und hier ein neues Leben beginnen wollte. Sie hatte ein gutes Gefühl. Der Hauch eines Lächelns huschte über ihr Gesicht.
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Susan kam in die Klinik, um sich mit Uwe in der Cafeteria zu treffen. Dieser kam hektisch zu ihr an den Tisch. „Hallo Susan, schön, dass du wieder zurück bist. Es tut mir leid, aber ich habe nicht viel Zeit“. Susan war beleidigt, „Ja ja, wie immer, ich dachte du freust dich wenn du mich siehst. Bekomme ich keinen Kuss?“ Uwe gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange, „Ich bleibe die nächsten Tage hier in der Klinik.“ Susan starrte ihn fassungslos an, stand schnell auf und schnaubte: „Alles klar. Ich fahr in meine Wohnung. Morgen ab zehn bin ich unten.“ Der Arzt blickte ihr enttäuscht hinterher.
Im Untergeschoss der Klinik war unter anderem der Fitness- und Wellness Bereich untergebracht. Alle Mitarbeiter und Angestellten der Klinik konnten hier für wenig Geld trainieren und auch saunieren. Hier war Susans Reich. Sie leitete verschiedene Fitness-Kurse, kümmerte sich um die Räumlichkeiten, Geräte, Sportlernahrung und erstellte die Fitnesspläne. Ebenso arbeitete sie als Ernährungsberaterin, hielt einmal im Monat Vorträge, erstellte Diätpläne für die Patienten. Sie liebte diesen Job. Hier war sie ihre eigene Chefin und von allen sehr beliebt.