Käthe wurde von Georg früh geweckt. Sie war ganz durcheinander. „Huch, ähhm, was ist denn? Ist was passiert?“ „Pack schnell deine Sachen zusammen, deine Mama ist aufgewacht, komm mit, wir fahren schon einen Tag früher in die Klinik.“
Völlig überfordert und gestresst packte Käthe ihren Rucksack, schnappte sich ihren Klarinettenkoffer und rannte hinunter in die Küche. Rita hatte schon Brote geschmiert und Kaffee vorbereitet. Dann stand Käthe draußen mit Franz bei den Kühen am Stall, im Jogging-Anzug mit einer großen Tasse in der einen Hand und die Zigarette in der anderen. Sie war ganz aufgeregt und gleichzeitig noch im Halbschlaf. Franz und Olga freuten sich für das schwäbische Mädchen, drückten beide Daumen, dass bei der Mutter alles gut sein würde.
Kurz nach sieben ratterten sie durch das verschlafene Montan. Georg bemühte sich, während der Fahrt freundlich und fröhlich zu sein, Käthe sollte nicht bemerken, dass er voller Sorge um Uwe war. Maria hatte ihm natürlich die nächtliche Aktion mitgeteilt. Victors Frau hatte sie nachts noch benachrichtigt, doch diese war schon im Bett und hatte keine Lust, ihren besoffenen Mann abzuholen. So hatte Maria zusammen mit der Nachtschwester die beiden Ärzte in Uwes Arztzimmer verfrachtet. Da lagen sie immer noch.
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Als Uta morgens die Nachricht auf ihrem Handy sah, konnte sie es nicht glauben. „Was? Tatsächlich? Oh mein Gott!“ Schrie sie laut, es waren nur die Hunde da, denn Otto war bereits in den Betrieb gefahren. Sie wählte sofort Klaras Nummer und gab ihr Bescheid. Lina und Paul hatten ebenfalls eine Nachricht erhalten. Die Kinder wollten direkt zur Oma fahren, dabei wusste man noch gar nichts Genaues. Lina war sehr skeptisch und hatte viele Bedenken. „Was, wenn sie jetzt dumm ist? Kann sie wieder alles machen? Funktioniert ihr Gehirn? Hat sie schon etwas gesagt?“ Wahrscheinlich war es zu früh, jedem Angehörigen diese Nachricht des Erwachens zu schicken, doch so war es vereinbart.
An diesem Donnerstag telefonierte jeder mit jedem, es wurde viel spekuliert und nachgefragt. Dr. Ortner hatte versprochen, abends einen Bericht abzugeben. Käthe würde bestimmt ebenfalls anrufen und erzählen.
Johann würde am Wochenende von Köln kommen und nach Innsbruck fahren. Er wollte alles dafür tun, dass seine Schwester jetzt endlich nach Deutschland verlegt würde. Er wollte alle Hebel in Bewegung setzen. Die weite Fahrt jedes Wochenende hatte er satt! Die anderen Familienmitglieder konnten sich doch hier in der Heimat viel besser um die Schwester kümmern. Oder?
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Bunte, tanzende Lichter überall, mit zarten Stimmen riefen sie ihr zu, lullten sie ein und zogen sie weg von dem Nichts. Hier war es warm und weich, warum durfte sie an diesem Ort nicht verweilen? Wollte sie das überhaupt? Sie wusste nicht wohin, doch sie wurde gezogen, nach rechts und nach links gedreht, geschüttelt und getreten. Hört doch auf! Das laute Klopfen und Pochen, überall, sie wollte wegrennen und schreien. Dann sah sie das grelle Licht, sie steuerte automatisch darauf zu und wurde belohnt. Energie durchströmte ihren Körper, sie wollte laut schreien, da schlug auch schon ein Blitz ein und nahm sie mit auf die Reise.
Sie klappte den Mund auf und zu. Der bittere Geschmack war so eklig, sie versuchte ihre Hand zum Mund führen, fand weder das eine noch das andere. Vorsichtig öffnete sie ihre Augen, starrte auf eine weiße Wand und hatte keine Ahnung, was das soll. Wo war sie eigentlich gelandet? Warum nur hatte man sie auf dieses harte Brett geschnallt? Warum konnte sie sich denn nicht bewegen? Und warum war alles um sie herum so laut, grell und kalt? Warum hatte sie denn diese furchtbaren Schmerzen? War sie entführt worden? Es ist alles nur ein Traum, vermutete sie, beruhigte sich selber. Sie spürte ihren pochenden Herzschlag laut und schnell. Sie hatte große Angst.
Ein ihr fremdes, verschwommenes und unbekannt wirkendes Wesen nahm ihre Hand und streichelte diese. Sie wollte es nicht, da es kitzelte, aber sie hatte keine Kraft sich zu wehren. Dann gelang ihr endlich das, was sie längst vor hatte, sie sperrte den Mund auf und schrie laut. Sie erkannte ihre eigene Stimme nicht, hoffte dennoch auf Hilfe.
Dr. Georg Ortner lächelte, als er den Schrei aus Frau Häberles Zimmer hörte. Käthe saß schon eine Stunde geduldig am Bett ihrer Mutter und redete auf sie ein. Von Maria hatten sie erfahren, dass Moni die halbe Nacht ihre Augen auf und zu machte. Als hätte sie testen wollen, ob das funktioniert. Im Moment machte Moni diese Übungen mit dem Mund. Käthe musste darüber ebenfalls lachen, es sah so ulkig aus.
Nachdem Georg die verkaterten Ärzte geweckt hatte, verteilte er Kaffee und zum ersten Mal in seinem Leben gab er Uwe eine schallende Ohrfeige. Dann schickte er ihn unter die Dusche. Victor entschuldigte sich tausend Mal bei dem Senior-Chefarzt und ging beschämt nach Hause.
Uwe stand ewig unter der eiskalten Dusche, bestrafte sich selber für diesen Unsinn. Er wusste, dass er Mist gebaut hatte. Aber das war jetzt vorbei. Schluss damit! Endgültig! Dann erinnerte er sich daran, dass seine Lieblingspatienten die Augen geöffnet hatte, auf einmal hatte er es sehr eilig.
Vorsichtig trat er in Frau Häberles Zimmer, er war mit ihr alleine, Käthe machte gerade Frühstückspause. Moni starrte an die Decke, ihre Vitalwerte waren durchaus in Ordnung, wenn auch Puls und Blutdruck erhöht waren. Er würde ihr weiterhin Beruhigungs- und Schmerzmittel verabreichen, sogar die Dosis leicht erhöhen. Er trat näher ans Bett heran.
„Hallo, Frau Häberle, können Sie mich hören?“ Daraufhin machte diese sofort die Augen zu, drehte den Kopf schüttelnd zur Seite. Der Chefarzt musste schmunzeln. Sie benahm sich einfach zuckersüß. Sie hatte mit Sicherheit Entziehungserscheinungen der Narkosemittel, schließlich waren das harte Drogen. Auch Wahrnehmungsstörungen und Verwirrtheit waren keine Seltenheit. Das würde sich aber in den nächsten Stunden oder Tage wieder vorbei gehen. Wie lange es dauern würde, bis ihre Erinnerungen kommen, das konnte freilich niemand sagen.