Lina packte gestresst ihre Kinder ins Auto. Im Kofferraum war kein Platz mehr, dabei mussten noch zwei weitere Taschen verstaut werden. Sie hatte kurzfristig einen Auftritt mit der Band, die Kleinen brachte sie zu ihrem Vater Paul, da Flo auf dem Hof arbeitete. Als sie gerade auf die Autobahn fuhr, fing Gerhard mit einer kindlich hohen, weinerlichen Stimme, an zu singen. „Mein toter Opa fliegt mit meiner Oma im Himmel, so wie die andern Engelein, ach könnt ich nur bei denen sein.“
Lina fuhr sofort auf den Standstreifen, hielt an und drehte sich zu ihrem Sohn um. Da saß er, stocksteif in seinem Autositz, Tränen liefen ihm die Wangen herunter. Bei diesem Anblick musste sie ebenfalls weinen. Irene hatte die Augen geweitet, bohrte in der Nase, die Kleine wusste nicht so recht, wie sie die Situation einschätzen sollte. Lina hatte inzwischen den Warnblinker eingeschalten.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie spät dran war. Da sie für den Moment aber nicht weiter fahren konnte, wählte sie die Nummer des Chefarztes der Klinik. Dieser ging tatsächlich an das Telefon. „Dr. Ortner am Apparat, ja hallo?“
„Grieß Gott, hier schpricht Lina, die Dochter von Moni Häberle, i wollt nochfroga wie`s meiner Muader goat.“ Lina konnte nur schwäbisch, sie hatte inzwischen den Lautsprecher angeschaltet, Gerhard und Irene waren ganz leise geworden.
„Hallo Lina“, antwortete der freundliche Arzt mit der sympathischen Stimme. „Es freut mich, dass du dich meldest. Deiner Mutter geht es recht ordentlich. Sie schläft noch, wir mussten noch einmal operieren. Aber es sieht alles soweit gut aus. Die Verletzungen heilen gut, auch die Schwellung am Kopf ist zurückgegangen. Wir sind sehr zuversichtlich. Sie wird in den nächsten Tagen aufwachen, dann werden wir weiter sehen.“
„Dange, meine Kinder sin so traurich, wissen Sie, die höred grad mit. Mir sin grad im Audo.“ „Hallo ihr beiden, Gerhard und Irene, ja?“ Die beiden nickten mit weit aufgerissenen Augen. Uwe gab sich viel Mühe. „Bald könnt ihr wieder mit eurer Oma spielen, sie freut sich schon sehr auf euch. Sie muss sich noch ein wenig ausruhen“. „Ja, ja, juchuu“, hörte er die Kinderstimmen. Lina sagte tschüss, da war auch schon die Verbindung weg.
***
Nach dem gemeinsamen Frühstück räumte Käthe zusammen mit Olga die Küche auf. Ihr Rucksack war bereits gepackt, daneben stand der Klarinettenkoffer. Gleich würde sie von Dr. Uwe Ortner abgeholt werden. Olga war ein klein wenig enttäuscht, weil sie dachte, Käthe käme mit in die Kirche.
Als sie später draußen ihre Zigaretten rauchte, sah sie Franz, dieser winkte ihr gleich zu. Er sah heute ganz schön fertig aus. Olga flüsterte ihr ins Ohr: „Weißt du, wir glauben, dass er Alkoholiker ist“. Käthe runzelte die Stirn und blickte streng zu dem ukrainischen Mädel. „Na und, das kann uns doch egal sein, ich finde ihn sehr, sehr nett.“ Entrüstet ging Olga zurück ins Haus.
Aaron sprang wild umher und bellte in alle Richtungen. Dann war der Chefarzt auch schon zu sehen. Lachend streichelte Käthe den Hund. „Da haben sich ja zwei gesucht und gefunden, was?“ Uwe lächelte, er freute sich ernsthaft darüber, wie sich das Mädchen in so kurzer Zeit verändert hatte. Schüchtern gab ihm Käthe zur Begrüßung die Hand. „Wie geht es meiner Mama?“
„Unverändert, aber sie wird sicher bald aufwachen“. Uwe war wie immer sehr freundlich und hoffnungsvoll. Er ging zu Rita ins Haus, da sie sich lange nicht gesehen hatten, war die Freude sehr groß. Zehn Minuten später stiefelte Olga hinaus, es war Zeit für die Kirche. „Soll ich euch ins Dorf fahren? Dann können wir noch gemeinsam einen Kaffee trinken“, schlug Uwe vor. Rita nickte, auch Franz war inzwischen in die Küche gekommen und wechselte ein paar Worte mit Uwe. Käthe verabschiedete sich von Aaron und rauchte noch eine Zigarette.
Nachdem Uwe auch bei seiner Schwester Tina einen kurzen Besuch gemacht hatte, fuhren sie nach Innsbruck. Tinas Kinder liebten ihren Onkel, sie sahen ihn viel zu wenig. Er versprach ab jetzt öfters zu kommen. Käthe war während der Fahrt sehr still, hatte sich Musik in die Ohren gesteckt und schaute aus dem Fenster.
In der Konsole unter dem eingebauten Audio-System entdeckte sie den Stick ihrer Mutter. „Hey, das ist ja cool, haben Sie schon reingehört?“ Uwe schüttelte den Kopf. „Noch nicht, hatte noch keine Zeit, habe mich auch noch nicht getraut, meinst du es ist ok wenn ich das tu?“
„Aber klar, nur wundern Sie sich nicht über die Auswahl er Lieder. Es ist eine bizarre, bunte Mischung aller, oder eben vieler Lieblingslieder meiner Mutter“. Käthe lächelte das erste Mal richtig verschmitzt, legte sogar ihre Kopfhörer beiseite. Sehr neugierig geworden steckte Uwe den Stick in die USB-Buchse. Als das erste Lied begann, erschrak er sich sofort. Ziemlich laut und das Innere des Wagens ausfüllend, ertönte schroff Der ewige Sieg von der Band Equilibrium, einer deutschen Synphonic Metalband aus Bayern, genauer gesagt aus Franken. Damit hatte der Chefarzt nicht gerechnet.
„Oh ha“, entfuhr es ihm schockiert.
Da er sich auf den Verkehr konzentrieren musste, entschied er sich dafür, den Stick in Ruhe anzuhören. Käthe lächelte noch immer, drehte an den Knöpfen und wählte ein anderes Stück aus.
Der Bozner Bergsteigermarsch ertönte nun, da lachte der Chefarzt, und zwar richtig laut. „Das wird ja spannend.“
In der Klinik freute sich Käthe über den Besuch aus der Heimat. Lange umarmte sie ihre Tante, sie benötigte dringend Kuscheleinheiten. Gemeinsam besuchten sie Moni, die jetzt in das gemütliche Krankenzimmer verlegt wurde. Sie atmete wieder selbstständig, aber leider war sie noch nicht aufgewacht. Sogar Johann ging mit. Sie verbrachten ein paar schöne Stunden zusammen, mussten dann aber die Rückreise antreten. Uta wollte Käthe noch einmal überreden, mitzukommen, doch sie hatte keine Chance. „Nein! Ich möchte mein altes Leben hinter mir lassen, ich fange hier in Innsbruck und bei meiner Mama neu an!“
Beim Abschied steckte Otto ihr einen hundert Euro Schein zu.
Alles drehte sich, immer schneller, niemand war da, um ihr zu helfen, sie konnte sich ohne Hände nirgends festhalten.
Einsamkeit. Laut pochend kam das Hämmern näher, sie wollte fliehen, wusste nicht wie und wohin. Sie fühlt sich bedroht. Es wurde dunkel und gleichzeitig hell, die Blitze kamen näher, sie wollte schreien, konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, wie das gehen soll. Durch das Donnern und Grollen hörte sie seltsame, bekannte Laute, ein wohliges Gefühl durchströmte sie mit Energie. Doch plötzlich war alles weg, auch das dunkle Nichts.
Uwe und sein Vater verabschiedeten die kleine schwäbische Gesellschaft, danach fuhr Georg zurück nach Montan. Käthe blieb bis zum nächsten Tag, sie hatte ab jetzt immer montags einen Termin bei Dr. Marowski. Zusätzlich wollte Uwe einen großen, kompletten Check-up bei ihr durchführen. Auch die Blutwerte mussten seiner Meinung nach kontrolliert werden. Sie durfte im Zimmer ihrer Mutter bleiben, man hatte ihr ein Gästebett in dem geräumigen Komfortzimmer aufgestellt. Ohne das Beatmungsgerät und ohne das nervige Piepen der Monitore, konnte Käthe den Anblick inzwischen gut ertragen, es war schließlich ihre Mama. Sie schaffte es sogar immer wieder, ihre Hand zu nehmen und mit ihr zu reden. Das Lästige war, dass fast stündlich das Pflegepersonal hereinkam, um nach ihrer Mutter zu schauen, irgendwelche Knöpfe zu oder aufdrehten, oder aber um sie neu zu lagern.
Insgeheim hoffte Käthe, dass sie heute noch Kim traf.