Er war eingenickt. Anstrengende Tage lagen hinter dem Chefarzt und seiner Mannschaft. Sie hatten sich um zwei Unfall-Patienten mit sehr schweren Kopfverletzungen kümmern müssen. Er stand über zehn Stunden im OP, jetzt war er erledigt. Die Sache mit Susan verdrängte er, so gut es eben ging. Mit seiner Whiskeyflasche saß er abends neben Moni, er vertraute ihr all seine Gedanken und Wünsche an. Streichelte ihre Hand, spürte das Zucken in ihrem Körper, sie würde in den nächsten Tag aufwachen, das war jetzt klar. Uwe zündete Duftkerzen an, leise trällerte das Radio. Sein Blick fiel auf den Musikstick. Er war bereit für Monis Lieder.
Diese bunte Musikmischung gefiel ihm gut, vielleicht würde er ja bald erfahren, woher diese breite Fächerung kam. Er kannte die wenigsten der Bands. Elektrohexe hieß das erste Lied am heutigen Abend. Auf dem Display erschienen immer Titel und und Interpret, darüber war er sehr froh. Gespielt wurde dieses schräge Metal-Lied von der Gruppe Eisregen. Es gefiel ihm allerdings überhaupt nicht. Anschließend sang Bryan Adams vom Summer of ’69. Beim nächsten Lied, er traute seine Ohren kaum, sang eine Band vom Liebficken. Es war von der für ihn unbekannten Musikgruppe Sofaplanet:
Ein gutes Gespräch ist kaum zu ersetzen
All meine Freunde können dies schätzen
Doch als ich eben aus dem Fenster sah
Wurde mir eines sofort klar
Wärst du jetzt hier und nicht so weit fort
Dann gingen wir raus und sagten sicher kein Wort
Wir würden einfach liebficken
Ficken für vier
Du auf dem Rücken
Und ich über dir
Mal schnell und mal langsam
Und irgendwann
Sehen wir uns gemeinsam die Sterne an
Wir würden einfach liebficken
Einfach liebficken
Vor lauter Lachen flog zuerst sein Laptop auf den Boden, danach beinahe er selber, vielleicht war auch der Whiskey schuld. Maria kam ins Zimmer, schaute vorsichtig nach, was der Chefarzt hier so trieb. Monis Puls war extrem in die Höhe geschnellt, das hatte ihr der Monitor angezeigt. Als sie ihren Arzt so sah, erschrak sie ein weiteres Mal. „Bitte Uwe, sei doch vernünftig. Du musst damit aufhören. Sonst bleibt mir nichts anderes übrig, als es deinem Vater zu erzählen und dich heimzuschicken.“
Uwe wischte sich die Lachtränen aus den Augen. „Ja, ich weiß doch. Entschuldige bitte.“ Maria nahm ihm die Flasche weg, brachte Kaffee und Wasser und zeigte auf ihr Handgelenk. „Es ist erst 19 Uhr!“
***
Auf dem Hof fühlte sich Käthe inzwischen fast wie zuhause. Aaron wich ihr nicht von der Seite. Mit Rita und Olga verstand sie sich immer besser. Mit dem Mädchen aus der Ukraine ging sie täglich zum Nachbarhof. Schon alleine die Suche nach den Eiern dort machte Käthe viel Spaß. Die dreizehn Hühner von Tina und Max waren immer sehr fleißig. Olga besuchte die Kinder, während Käthe bei den Welpen blieb. Einer davon, der kleine Bruno war in seiner Entwicklung seinen Geschwistern hinterher. Um dieses Sorgenkind kümmerte sich Käthe am Liebsten. Bruno kuschelte gerne mit ihr und ließ sich streicheln. Tina hatte ihr erzählt, dass sie ihn vermutlich nicht als Herdenschutzhund vermitteln könnten. "Ich kümmere mich um den Kleinen!" Käthe war zuversichtlich.
Am Liebsten jedoch saß sie mit Franz draußen neben dem Stall, trank ihren Kaffee, beobachtete die Wiederkäuer, rauchte und quatschte mit ihm. Er redete immer noch sehr wenig, dafür aber immer Sinnvolles! Ab und zu öffnete er sich, erzählte ihr aus seinem kargen Leben. Sie erfuhr, dass er ein paar Jahre im Knast gesessen hatte. Den Grund dafür würde er noch preisgeben. Käthe wäre die einzige Person, die ihn trotzdem mochte und nicht weglief, obwohl er ihr das anvertraut hatte.
Morgens stand Käthe gerne in der Küche, buk Utas Hefezopf. Dieser war inzwischen im ganzen Dorf bekannt und sehr beliebt. Franz würde ab nächster Woche Ziegen-Heukäse herstellen, Käthe wollte das unbedingt lernen. Für ihre Mama! Butter wollte sie selbst machen, dafür musste sie jedoch noch Rita überreden.
Georg plante den großen Um- und Anbau. Jetzt im Herbst noch ging es los. Hoffentlich würde das Wetter dem Umbau nicht entgegenstehen. Uwe war begeistert von der Idee, eine große, moderne Wohnung über dem ehemaligen Kuhstall zu errichten. So würde er an seinen freien Tagen wieder öfters auf den Hof kommen. Das Haus am Achensee wollten sie verkaufen.
Wegen Susan hatte er sich von Montan und seiner Familie zurückgezogen. Sie hasste Kühe und das Landleben.
Abends war Käthe in ihrem Zimmer beschäftigt, am Laptop und im Internet. Das Klarinettenspiel wurde derzeit etwas vernachlässigt, denn sie telefonierte lieber ganz lange mit Kim. Die Mädels hatten sich eine Menge zu erzählen. Jeden zweiten Tag quatschte sie mit ihrer Schwester, seit der letzten Begegnung standen sie sich wieder näher. Gemeinsam freuten sie sich auf die Weihnachtszeit, Lina war mit den Kindern auf den Hof eingeladen. Bis dahin wäre ihre Mama bestimmt wieder fit. Oder?
***
Zwei Tage lang beherrschte sich der Chefarzt, er trank nur Kaffee, Tee und Wasser. Er kümmerte sich zusammen mit dem Verwaltungspersonal um alle anstehenden Angelegenheiten. Sie waren dabei, einen Ersatz für Dr. Peter Wahl zu suchen. Dieser hatte inzwischen schon sehr oft vergeblich versucht, ein Gespräch mit dem Arzt zu führen. Doch Uwe blockte verständlicherweise jeden Kontakt ab. Er hasste ihn. Und Susan hasste er auch. Um das Biest zu ersetzen, hatte er drei Sport-Studentinnen eingestellt. Das Zirkeltraining und die Gymnastikkurse blieben den Angestellten erhalten.
Ab morgen würde sein Vater wieder aushelfen, da Victor drei Tage frei hatte. Uwe traf sich mit seinem Oberarzt an diesem Abend im Arztzimmer, sie hatten noch was zu besprechen. Sie waren schon immer gut befreundet, aber die aktuelle Situation hatte sie zu echten Kumpels gemacht. Uwe schenkte zwei Gläser mit Whiskey voll, Victor sagte nicht nein, denn er hatte ja am nächsten Tag frei.
Sie kämpfte sich durch den Nebel des Nichts hindurch, weit hinten hatte sie bunte Lichter gesehen. Ein großartiges Gefühl der Kraft und Stärke durchströmte sie bei diesem Anblick. Es regten sich die Lebensgeister, schoben das Hämmern und Klopfen beiseite. Die tausend Nadelstiche versuchte sie zu ignorieren, rannte, flog, boxte und schnaufte und verlor sich wieder in der Weite des Daseins.
Nach der Besprechung saßen die beiden Ärzte mit ihrem Whiskey bei Moni im Zimmer, hatten den Musikstick eingestöpselt und Victor erzählte nebenher von seiner Familie.
Nach zwei weiteren Gläsern waren die Ärzte betrunken, sie lachten laut, sangen bei ihnen bekannte Lieder mit. Eine der Nachtschwestern versuchte, gegen Mitternacht die Männer ins Bett zu schicken. Erklärte ihnen, dass es der Patientin wohl nicht gefällt, denn Blutdruck und Puls seien sehr in die Höhe geschnellt. Victor nickte verständnisvoll und stand schwankend auf.
Laut ertönte Mike Oldfiels Arrival als Frau Moni Häberle die Augen aufriss.
Victor starrte abwechselnd zu ihr und zu dem Chefarzt, der völlig schräg auf seinem Stuhl hockte, eine lange Haarsträhne hing ihm ins Gesicht.
Wie laut und kalt, hässlich und schmerzvoll es bei den bunten Lichtern war, hatte sie vorher nicht gewusst.