Während Uwe die vollen Boxen und Taschen im Auto verstaute, gestattete Moni endlich ihrem Schwiegervater den notwendigen Besuch ab. In der Wohnung roch es wie immer nach Staub, Rauch, Schweiß und Mief. Die Tischdecke auf dem uralten Holztisch war klebrig und mit vielen Löchern versehen. Eklig wie immer war es hier oben. Innerlich schüttelte sie sich. Adolf saß unrasiert in seinem vergilbten, weißen Feinripp-Unterhemd am Tisch, vor sich eine leere Flasche Weißwein. „Warum bisch du ohne meinen Sohn zrück komme?“
Moni senkte den Blick, „Es tut mir so leid, was geschehen ist, Adolf. Ich selber habe keine Ahnung wie was genau passiert ist. Ich kann mich einfach nicht an den Unfall erinnern. Auch nicht an die Tage und Wochen davor.“ Er nickte und starrte aus dem Fenster zu Uwes Wagen.
„Und was ist mit dem Kerl?“ „Adolf, das ist der Arzt von der Innsbrucker Klinik, er hat mich freundlicherweise spontan hierher gefahren. Er ist ein sehr guter Mensch! Sei ihm nicht böse.“ Klara kam dazu, sie bot Moni die Suppe an, doch sie lehnte angewidert ab. „Wir sehen uns ja später auf der Geburtstagsfeier“.
Sie hatten Glück, denn die Kleider waren schon trocken, schnell zogen sie sich um. Moni rief nochmals nach Tim. Sie gab ihm den ganzen Schlüsselbund. „Hier, nimm du sie an dich. Machs gut mein Kleiner“.
Als das Haus im Rückspiegel verschwand, konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Uwe parkte am Straßenrand, hielt sie ganz fest. „Mein Engel, ich bin bei dir, ja?“ Seine sanfte Stimme war Balsam für ihre Seele.
Zuerst fuhren sie in den Nachbarort zu Monis ehemaliger Arbeitsstelle. In den Briefkasten legte sie behutsam die Kündigung, die sie vorhin auf die Schnelle getippt hatte, mitsamt dem Büro-und Lagerschlüssel. An der Tankstelle kaufte sie zwei riesige Blumensträuße und fuhren damit wieder zurück auf den Friedhof. Einer war für das Grab von Herbert, der andere für Monis Eltern.
Uwe war erstaunt, „Du hast auch keinen Vater mehr?“ Resigniert schüttelte Moni den Kopf, „Ich erzähle dir alles irgendwann in Ruhe!“ Auf der anderen Seite des Dorfes klingelte Moni bei ihrer langjährigen Freundin und Strickpartnerin. Sie erzählte ihr kurz und knapp von ihrem Vorhaben. Die Frauen drückten sich sehr herzlich, dann versprachen sie sich, in Verbindung zu bleiben.
Jetzt stand dem Geburtstagsfest bei Lina und den Kids nichts mehr im Wege.
Die Kleinen hüpften draußen auf dem neuen Trampolin. Uwe überreichte seine Ü-Eier, die Kinder sprangen wie Hunde an ihm hoch. Mit ihren niedlichen Stimmchen riefen sie laut: „Der Doktor ist da, der Doktor ist da!“ Dann fielen sie ihrer Omi um den Hals und ließen sich knuddeln und knutschen. Moni drückte sie lange, „Kommt, wir gehen hoch!“ „Nein, hüpfen, hüpfen“, schon waren sie wieder auf dem großen Turngerät verschwunden.
Es dauerte eine Weile, bis Moni die vielen Treppen hochgestiegen war. Völlig außer Atem betrat sie das gemütliche, geräumige Wohnzimmer. Alle Augen starrten sie an. Uwe fühlte sich äußerst unbehaglich.
Lina schrie laut vor Entzücken. Uta sprang freudig und überrascht vom Stuhl, so schnell, dass dieser umkippte. Flo grinste wie ein Breitmaulfrosch und hob zur Begrüßung die Hand.
Monis Stimme klang gekünstelt, „Hi alle miteinander! Überraschung!“ Sie wurde von der Familie gedrückt, befingert und gestreichelt. Sie stellten sich alle nacheinander vor.
Ein ihm völlig unbekannter Mann stand auf. Dieser versetzte Uwe den zweiten großen Schock an diesem Tag.
„Hey, ich bin Paul, Monis erster Mann und Vater ihrer Töchter“. Uwe traute seinen Augen kaum. Warum hatte er ihn in der Klinik nicht bemerkt? Ein Mann wie James Bond, schlug ihm dabei kräftig auf die Schulter. Mit den schwarzen Locken, die ihm verwegen ins Gesicht hingen, dazu die stechend blauen Augen war er für Uwe wie ein weiterer Bruder. Allerdings war diese Ausgabe hier um einiges jünger als er selbst.
„Bist du ihr neuer Stecher?“ Pauls Augen blitzen frech und er lachte über seinen eigenen Witz sehr laut.
„Hi“, krächzte der Chefarzt zurück. Wie gerne hätte er seinen weißen Kittel an. Ihm wurde schwindelig.
Von Otto, der ihn skeptisch anschaute, ließ er sich auf einen freien Stuhl begleiten. In einem Zug leerte er das Glas Sekt, welches Lina ihm in die Hand drückte. Mechanisch nahm er den angebotenen Kaffee und ein Stück Marmorkuchen entgegen. Er hatte das Gefühl, er müsse sich direkt am Tisch übergeben. Inzwischen war es laut geworden, alle riefen durcheinander, jeder stellte Fragen oder wusste etwas Sinnvolles. Die Kinder kamen dazu, sie hatten endlich Zeit für die Geschenke. Schon nach einer Stunde bekam Moni diese mörderischen Kopfschmerzen, ihr Gesicht wurde kreidebleich.
Ein jeder konnte ihr ansehen, wie schlecht es ihr ging. Uwe war so dankbar, als sie aufstand und verkündete: „Meine liebe Familie, wir müssen jetzt leider wieder nach Innsbruck zurück. Seit ich am Grab war, geht es mir richtig schlecht. Ich muss euch sagen, dass ich bei Uwe in Innsbruck bleiben werde. So wie Käthe auch. Ich kann nicht zurückkommen. Aber wir bleiben ja in Verbindung“, dabei hob sie ihr Handy hoch.
Stille, dann aber ertönte lautes Geschrei und Stimmengewirr.
Gerhard und Irene standen traurig an der Türe und winkten, „Tschüß Omi, tschüß Onkel Doktor“. Weinend nahm Moni ihre Enkel in den Arm. „Wir sehen uns bald wieder ja? Ihr kommt an Weihnachten nach Montan auf den Hof, gell?“ Der Abschied dauerte einige Zeit. Paul blieb sitzen und schüttete sich zu, das konnte er schon immer am besten. Uta und Lina waren wütend und stinkesauer auf Moni. Uwe hatte einen Anruf von Victor erhalten, deswegen saß er wartend im Auto.
Nur vier Kilometer später bog Uwe auf einen Feldweg ab. Bei laufendem Motor stieg er aus. „Scheiße, scheiße, scheiße!“ Er brüllte sich die Seele aus dem Leib. Dann lief er einige Male um den Wagen, öffnete die Beifahrertür und starrte seine Herzdame an. Sie saß da und weinte noch immer. Ihre Augen waren inzwischen dunkelrot, die Haut im Gesicht von den Tränen aufgequollen. Behutsam half er ihr beim Aussteigen. Es regnete in Strömen, doch sie hielten sich engumschlungen aneinandergeklammert fest. „Oh mein lieber Gott, was für ein schrecklicher Tag!“
Klatschnass steuerte er den Wagen Richtung Autobahn, beide schwiegen. Kurz hinter Stuttgart benötigte Moni die erste Pinkelpause. Im Restaurant bestellten sie Kaffee und lauschten den weihnachtlichen Klängen aus den Lautsprechern.
Beide waren jedoch nicht bereit für ein Gespräch. Uwe kaufte drei Flaschen Cola dazu eine große Tüte Äpfel. „Ich mag aber keine Cola, Äpfel sind langweilig,“ maulte Moni. Uwe biss sich auf die Lippen, drückte ihr einen Schein in die Hand und verschwand draußen in der Dunkelheit.
Mit einer Flasche Apfelsaft und einer Tafel Schokolade, humpelte sie umständlich unter Schmerzen alleine zurück auf den Parkplatz. Sie fand Uwe auf einer nassen Parkbank sitzen. „Du hast mich ohne meine Krücken alleine stehen lassen?“
Uwe nickte, „Mhmm, ja, das habe ich tatsächlich getan, scheiße! Es tut mir leid, ich... ich...“
Nach kurzer Überlegung kamen sie zu dem Entschluss, hier auf dem Parkplatz im Auto für eine Stunde die Augen zu schließen. Uwe kramte aus Monis Taschen ein Handtuch, hielt es aus dem Fenster, um ihr damit die Stirn und die Augen zu kühlen. Behutsam küsste er sie auf die Wange, entschuldigte sich noch einmal, dann fing er ebenfalls zu weinen an.
„Die Emotionen... ich habe mich nicht mehr im Griff.“ Die Sitze verstellten sie nach hinten, beide waren in kürzester Zeit eingenickt.
Sie schliefen zwei ganze Stunden. Verdattert und müde rieben sie sich die Augen, gähnten mehrmals heftig. Moni öffnete das Fenster, schnell wurde es kalt. Schweigend teilten sie sich die Getränke, einen Apfel und die Schokolade. Danach marschierten sie ein zweites Mal Richtung Toilette. Victor klingelte durch, er gab Untersuchungsergebnisse und Blutwerte durch. Moni hörte nur mit halbem Ohr zu, sie war mit ihren Gedanken ganz weit weg. Sie war in Toblach auf dem Berg, sie würde alles drum geben, wenn sie sich erinnern könnte. Was war denn nur passiert?
Uwe entschied sich wieder für die Route Autobahn München, Kufstein, Innsbruck. Es war entspannender zu fahren, er hatte bei diesem Wetter keine Lust auf Berge und Serpentinen.
Langsam kehrten bei beiden die Lebensgeister zurück. Abwechselnd streichelte Uwe Monis Hand und Oberschenkel. Er entschuldigte sich immer wieder und küsste ihre Hand.
„Sag, war dein erster Mann minderjährig als Käthe gezeugt wurde?“ „Hä?“ Moni wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen. „Was? So ein Quatsch, wir waren eben noch jung, ja. Was soll das denn jetzt?“
„Naja“.
„Ok, Paul ist fünf Jahre jünger, na und?“ Uwe nickte, dann schürzte er die Lippen, „Und du machst einen Aufstand weil ich zwei Jahre jünger bin?“
„Ach, das ist doch jetzt eine ganz andere Zeit. Übrigens, zu deiner Info, ich habe mich von ihm getrennt, weil er so viel gesoffen hat!“
Uwe überlegte lange, bevor er antwortete, „Verstehe“.