Kaum hatte Uwe die Klinik verlassen, kam Dr. Peter Wahl in den Eingangsbereich geschlichen. Er hatte die Aktion beobachtet, gewartet bis der Chefarzt im Transporter saß und jetzt lief er langsam zum Aufzug. Doch Nicole hatte ihn entdeckt, schnell kam sie näher. „Peter, was machst du hier? Du weist, dass du Hausverbot hast?“ Peter nickte, er weinte, sah richtig fertig und schlimm aus. „Bitte, kann ich mit Victor sprechen?“ Gemeinsam liefen sie zum Kiosk. Nicole kaufte ihm einen Kaffee und eine Brezel und bat ihn, draußen zu warten. Während sie zur Station K1 lief, gab sie Georg Bescheid. „So ein Dackel, warum gibt er nicht auf. Ob er sich überhaupt denken kann, was er angerichtet hatte? Aber danke Nicole, für deinen Anruf“.
Victor hatte erst eine Stunde später Zeit, um nach Peter zu sehen. Dieser saß immer noch auf der kalten, nassen Bank im Park. Mit dem leeren Kaffeebecher in der Hand starrte er vor sich hin. „Hey, sag mal, was ist denn? Spinnst du?“ Wie auf Kommando sprudelte es aus dem Ex-Oberarzt heraus: „Victor bitte, bitte hör mir zu. Ich, ich bereue alles so sehr! Susan, sie ist... sie ist eine Hexe. Ständig hat sie mir überall aufgelauert. Sie hat mich furchtbar angemacht, immer wieder hat sie mir geile Bilder geschickt, bis ich dann an einem Abend vor ein paar Monaten tatsächlich angesprungen bin. Und ja, ich weiß, was ich auch meiner Frau angetan habe. Aber sie würde mir verzeihen, wenn ich wieder als Oberarzt tätig sein dürfte. Wegen den Kindern wollen wir es noch einmal miteinander versuchen.“ Victor kniff die Augen zusammen, hörte ihm aber interessiert zu.
„Meine Frau hat mich über ein halbes Jahr lang im Bett abgelehnt. Kein Sex, kein Kuss, keine Streicheleinheiten, nichts. Ich habe es jetzt erst erfahren, sie hatte sich ebenfalls verliebt. Allerdings ist aus der Geschichte nichts geworden. Scheinbar hatte sie keinen Sex mit dem anderen und doch gab es zwischen uns einen großen Bruch. Ich hatte euch nie etwas davon erzählt, weil es mir so peinlich war. Die Schuld lag bei mir, ich bin ein Schlappschwanz, so dachte ich damals.
Da kam mir die Anmache von Susan gerade recht. Ich war, ehrlich gesagt, richtig notgeil. Susan meinte all die Zeit, dass Uwe sie nicht mehr liebt, weil er nicht eifersüchtig wäre, und er ihr alle Freiheiten gab. Außerdem wünschte sie sich nun doch Kinder, was mit Uwe ja nicht möglich war. Zumindest sagte sie mir eben solche Dinge. Noch dazu ging sie davon aus, dass er in Salzburg eine Freundin habe, da er regelmäßig einmal im Monat zu Vorlesungen an die Uni fuhr, wie du weißt.“
Jetzt endlich schnäuzte sich Peter, holte tief Luft und wurde ruhiger. Nervös nestelte er eine Schachtel Zigaretten aus seiner Tasche. Hastig zündete er sich eine an und zog dreimal, zerdrückte sie dann mir dem Schuh auf dem Boden aus. „Victor, ich bin fertig mit der Welt!“ Sofort brach er wieder in Tränen aus.
„Das ist ja ein Ding. Peter, gib mir auch eine.“ Dann qualmten die Oberärzte schweigend eine Zigarette in aller Ruhe. „Ich werde nachdenken, vielleicht fällt mir etwas ein. Du solltest auf jeden Fall mit Uwe noch einmal über die Sache reden.“ „Ja, das würde ich ja gerne, doch er lehnt jeglichen Kontakt ab“. „Lass mich nachdenken, ja? Schließlich fehlst du uns hier in der Klinik wirklich sehr.“ Gebückt zog Peter langsam los, es nieselte inzwischen, scheinbar war ihm das egal.
***
Aufgeregt und nervös parkte Uwe den Transporter direkt am Hof. Moni saß sprachlos vor Freude und ebenfalls aufgeregt in ihrem Rollstuhl. Allerdings fühlte sie sich hilflos ausgeliefert. Diese Erfahrung war neu und musste erst noch gelernt werden. Also wartete sie geduldig, bis Uwe sie aus dem Vehikel schob.
„Aussteigen, wir sind daha.“ Uwe schien richtig glücklich zu sein. „Willkommen in meiner Heimat, hier habe ich einen Großteil meiner Kindheit verbracht.“
Moni lächelte, sie blickte sich interessiert um, da kamen schon die Kleinen angerannt. „Omi, Omi, Omi!“ Georg kümmerte sich um das Feuer, das knisternd die ersten dünnen Äste verschlang. „Herzlich willkommen auf dem Huberhof.“ Mit funkelnden Augen strahlte er Moni an. Dieser Mann besaß Charisma, das hatte sie schon in der Klinik bemerkt.
Rita, Olga, Elsbeth und Aaron standen etwas abseits und begrüßten die Mama von Käthe freundlich. Franz und Karl waren im Stall und mit den Tieren beschäftigt, sie würden erst später dazu kommen, um eine Kleinigkeit zu essen. Moni lernte Uwes Schwester Tina und ihren Max kennen, sowie seine Mutter Margit und die Kinder Linus und Lara. Diese hatten ihren Onkel sofort in Beschlag genommen, denn sie hatten ihn nur selten hier auf dem Hof. Er musste mit ihnen Pony spielen und galoppierte wiehernd um das Lagerfeuer. Urkomisch sah das aus. Alle Menschen waren superfreundlich und sympathisch. Moni fühlte sich pudelwohl, auch wenn sie schon jetzt ziemlich müde war. Endlich kamen auch Lina und Käthe mit den Köstlichkeiten dazu und umarmten ihre Mama. „Ist es nicht wunderbar, dass wir alle beisammen sind?“ Moni nickte und hatte schon wieder Tränen in den Augen.
Es fuhr ein weiteres Auto auf den Hof. Kim und Dr. Marowski stiegen aus, sie waren ebenfalls Gäste des heutigen Tages. Käthe nahm ihre Freundin in Arm und sie liefen Hand in Hand zu den anderen. Aaron hüpfte fröhlich und kläffend zwischen den Mädchen hin und her. Moni hatte ihre kranke Tochter schon lange nicht mehr so glücklich gesehen und freute sich wahnsinnig für sie.
Schnell wurde es dunkel, da schnappte sich Lina ihre Gitarre und gemeinsam sangen sie Lagerfeuerlieder wie Country Roads, Blowing in the wind, für die Kinder Brüderchen komm tanz mit mir und die Affen rasen durch den Wald. Fast alle Würste waren gefuttert, mit roten Wangen hielten die Kinder ihre Stöcke ins Feuer, was für ein wunderbarer Abend. Uwe setzte sich neben seine Patientin und griff nach ihrer linken Hand, streichelte sie dabei wie jeden Abend. Moni lehnte ihren Kopf an seine Schultern, lachte und strahlte zum ersten Mal seit dem Unfall mit ganzem Herzen. Als Georg die beiden so sitzen sah, war er aus irgendeinem Grund eifersüchtig. Schnell richtete er den Blick auf die Kleinen.
Leider mussten sie nun wieder in die Klinik zurückfahren, sie packten Decken und Geschenke zusammen. Rita und Olga hatten für Uwe ein Fresspaket mit selbstgemachten Leckereien zusammengestellt: Marmelade, Brot, Joghurt, Kekse und Ziegenkäse waren liebevoll eingepackt. Monis Enkelkinder verteilen ihre selbst gemalten Bilder und Basteleien. Da endlich kamen Franz und Karl ebenfalls dazu. Auch sie stellten sich freundlich vor und gaben Moni die Hand. Karls Herzschlag setzte für einen Moment aus, als er Käthes Mama in die Augen sah. Sie erinnerte ihn sofort an seine verstorbene Ehefrau. Er stand da wie vom Blitz getroffen, starrte die hübsche Frau im Rollstuhl fasziniert an. Doch in der Aufbruchstimmung nahmen weder Moni noch Uwe davon Notiz, nur Rita hatte es bemerkt.
Der Abschied zog sich in die Länge und Moni wurde sehr traurig, denn sie würde Lina und die Kinder lange nicht mehr wiedersehen. „Ich vermisse euch jetzt schon. Ich liebe euch!“ „Gute Besserung, Mama.“ „Omi, Omi, Omi“. Lina weinte nun auch. Dann fuhr Uwe langsam den Weg zurück zum Dorf und hinunter zur Landstraße. Das Radio lief, Moni blickte durch das Fenster in die dunkle Landschaft. Sie dachte an ihren geliebten Herbert. Warum hat er denn nicht aufgepasst? Warum musste er eigentlich abstürzen? So ein Idiot!
Uwe half ihr zurück ins Bett. Sie war inzwischen fix und fertig, körperlich und seelisch. „Vielen Dank für den wunderbaren Abend, bleibst du noch ein bisschen?“ „Gleich, ich muss nur kurz ins Schwesternzimmer und zu Victor.“ Er hauchte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Wange, streichelte ihr liebevoll übers Haar, da schlief Moni sofort ein.