Aus weiter Entfernung hatten zwei Wanderer stumm und zur Salzsäule erstarrt dieses filmreife Spektakel mit ansehen müssen. Einer davon, rief sofort die Rettung. Rolf war Lehrer aus Bozen und tat instinktiv das Richtige. Er sprach fliesend italienisch und deutsch. Er alarmierte Polizei und Feuerwehr. Hektik machte sich breit, von überall kamen Wanderer heran. Großes Gemurmel, Geschrei und teilweise laut weinende Menschen irrten hilflos auf dem kleinen Wanderweg oben umher. So ein Unglück aber auch. Was war denn hier bloß geschehen?
Der Notruf ging um 17.30 Uhr in der Bergwacht-Zentrale in Toblach ein. Thommy, der Pilot, nahm ihn entgegen:--- Zwei Personen am Monte Piano abgestürzt, in die Tiefe gerutscht, nicht mehr sichtbar ---
Wegen des wunderschönen Wetters und dem bevorstehenden Wochenende waren sie in höchster Alarmbereitschaft, gut aufgestellt und gewappnet. Er alarmierte seine Mannschaft und gab den italienischen Kollegen Bescheid. Diese machten sich mit Rettungswägen auf der asphaltierten Straße von der anderen Seite des Berges auf den Weg. Sie hatten zwei erfahrene Bergsteiger und einen ausgebildeten Suchhund dabei. Thommy und seine Crew nahmen den Helikopter.
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Die kleine Gesellschaft trudelte nach und nach bei den Lauterbachs ein. Außer Susan und Uwe waren noch ein weiteres befreundetes Pärchen, die Rombachs sowie Uwes Vater Georg eingeladen. Es gab Fondue mit vielen leckeren Salaten, selbstgemachten Dips und verschiedenen Soßen. Georg brachte Fleischspezialitäten vom Bergdorf Montan mit. Er lebte dort seit seiner Pensionierung auf dem Hof seiner Schwägerin. Wenn er nicht gerade seinem Sohn in der Klinik mit Rat und Tat beistand, kümmerte er sich auf dem Hof um die Kühe, um seinen Schäferhund Aaron und um den Kräutergarten. Zusätzlich war er Mitglied im Dorfgemeinschaftsrat.
Uwe bediente sich an der großen Auswahl der Leckereien und wollte gerade seine Gabel in den Mund schieben, als er den Alarm hörte. Es war die Klinik. Er entschuldigte sich und lief mit seinem Telefon in das Nebenzimmer.
Victor, sein Oberarzt berichtete ihm von dem Unglück am Monte Piano und schilderte den Unfall, zum Schluss sagte er: „Thommy meinte, so wie er die Situation einschätzen konnte, sah es gar nicht gut aus für die beiden und er wolle sie gerne in deine Unfallklinik bringen. Ich bitte hiermit um deine Erlaubnis?“ Uwe schaute auf seine Uhr, es war inzwischen nach 18 Uhr, er würde um diese Zeit mindestens anderthalb Stunden mit dem Auto ins Krankenhaus benötigen.
„Gut, lass die Verunglückten einfliegen, wir nehmen sie in der Klinik auf. Stelle zwei Notfall Teams zusammen und gebt euer Bestes. Ich vertraue dir und allen MitarbeiterInnen. Ich komme morgen sowieso wieder nach Innsbruck zurück, haltet mich aber auf dem Laufenden“, antwortete Uwe genauso sachlich. Bedrückt ging er zurück zu den anderen. Sein Vater, der das Gespräch teilweise mithörte, blickte ihn fragend an und murmelte leise: „Du gehst schon morgen zurück nach Innsbruck?“ Dabei deutete er auf Susan, die schnell den Blick abwandte. Uwe nickte nur und berichtete was geschehen war am geschichtsträchtigen Monte Piano. Dann versuchten die Gäste, sich wieder auf das gute Essen zu konzentrieren.
Susan schenkte sich reichlich Sekt ein und gab den Frauen in der Runde Tipps für einen flachen Bauch und eine gute Kondition. Sie liebte es, im Mittelpunkt zu stehen. Ihr Smartphone brummte in ihrer Tasche und Susan schaute flüchtig und heimlich nach, wer ihr diese Nachricht schrieb: Süße, ich kann dich morgen in München nicht treffen. Wir haben gerade eben einen Notfall bekommen und Victor braucht mich hier. Melde mich wieder, vermisse dich meine heiße Schnecke.
Uwe und Georg gingen zusammen nach draußen, jeder bewaffnet mit einem Glas Whiskey. Sie setzten sich in den wunderschön angelegten Garten. Uwe erzählte seinem Vater, dass es gerade nicht so gut harmonierte zwischen ihm und seiner Verlobten. Vor allem die Sache mit dem plötzlichen Kinderwunsch von Susan ging ihm sehr nahe. Daraufhin nahm Georg seinen Sohn in den Arm, versuchte ihm dadurch ein wenig Halt zu geben. „Ich bin immer für dich da, das weißt du mein Sohn“, hörte er seinen Vater flüstern. Uwe lehnte sich an seine Schulter und weinte leise. Die Sache ging ihm sehr ans Herz.
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Kurz nach 20.00 Uhr wurde es Frau Reinhardt ein wenig mulmig zumute. Sie fragte ihren Mann: „Was denkst du, unsere Gäste aus Deutschland sind noch nicht von ihrem Tagesausflug zurück. Alles ist dunkel und ich habe sie noch nicht kommen hören.“ „Ich schau mal nach, ob das Auto in der Garage steht. Aber vielleicht sind sie auch zum Abendessen gegangen, ohne vorher hier vorbei zu kommen“. Was er allerdings selbst nicht so recht glaubte, da nach 19:30 Uhr kein Bus mehr zum Bauernhof fährt. Das Auto stand in der Garage und Familie Reinhardt schaltete den Fernseher an.
Beherbergungsbetriebe müssen laut Tourismusverband auf ihre Gäste achten und ihnen mitteilen, dass sie morgens Bescheid geben sollten, wohin sie an dem jeweiligen Tag wollten, welche Unternehmungen oder Wanderungen sie vor hatten, auch wann sie ungefähr wieder zurückkehren würden. Das hatten die deutschen Gäste heute leider vergessen. Sie hörten von dem Unglück am Monte Piano und beschlossen, die Familie Häberle aus dem Schwabenland als vermisst zu melden, und gaben die Personalien an die Polizei, welche sofort bestätigte, dass es sich um genau dieses Pärchen handelte. Morgen würden zwei Polizeibeamte vorbeikommen, um sich in der Ferienwohnung umzusehen. Es muss noch geklärt werden, ob sich es sich bei dem Unglück tatsächlich um einen Unfall handelte. Man wusste ja nie.
Fassungslos starrten sie in den Fernseher. Eine Träne machte sich auf den Weg bei Frau Reinhardt, sie hatte die beiden Schwaben gleich in den ersten Tagen ins Herz geschlossen. Die Häberles waren ihr als ganz herzlich liebe und sehr freundliche Gäste erschienen. Sie zündete eine Kerze an und betete.
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Käthe hatte gehofft, dass sich ihre Mutter gegen Abend telefonisch kurz meldete, denn dafür reichte der Empfang aus. Sie beruhigte sich, indem sie sich selber einredete, dass sie doch heute Morgen schon miteinander gesprochen hatten. Nur kurz, aber immerhin. Sie hatten ja auch gar nichts ausgemacht. Seit Stunden fühlte sich Käthe gar nicht wohl und es war ihr merkwürdig kalt. Womöglich wurde sie einfach krank, so legte sie sich ins Bett und nahm sich vor, gegen später ihre Tante anzurufen, sollte sie nicht schlafen können. Dabei war es doch erst 20.00 Uhr. Und aus irgendeinem dummen Grund machte sie sich voll die Sorgen um ihre Mama.