Die Fahrt nach Innsbruck war wie immer stressig, weil auf den Autobahnen zu viel los war. Johann wollte unbedingt schon freitags fahren, damit er auch wirklich die Chance bekam, mit dem Arzt über sein Vorhaben zu reden. Uta und Lina saßen gemeinsam auf der Rückbank, doch sie schafften es nicht, sich normal zu unterhalten. Ständig kritisierte Lina Johanns Fahrstil oder sie maulte die anderen an, weil ihr die Fahrt zu lange dauerte. Schon zwei Mal musste Johann anhalten, weil sie zur Toilette musste. Uta war wieder sehr genervt, sie versuchte, ihre Nichte zu ignorieren. Johann schimpfte über andere Autofahrer, nur Otto war wie immer der ruhende Pol. Er beschwichtigte, erzählte Witze, verteilte kleine Apfelschnitze. Auf den letzten Kilometer hing jeder seinen Gedanken nach, im Wagen war es endlich still.
Klara blieb dieses Wochenende daheim. Ihrem Vater Adolf ging es nicht gut, er jammerte über Rückenschmerzen und konnte nicht richtig laufen. Vielleicht müsste er ins Krankenhaus? Seit dem Unglück und dem Tod seines Sohnes war er ein alter, gebrochener Mann. Er konnte es immer noch nicht fassen, dass er seinen geliebten Herbert nie wieder sehen würde. Die Traurigkeit hatte ihn gefesselt.
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Olga freute sich auf Sonntag, da konnte sie endlich wieder in die Kirche und dem neuen Orgelspieler zu hören. Sie hatte sich ein wenig in ihn verliebt, aber bis jetzt noch niemandem davon erzählt. Das würde sie sich nicht trauen. Ob er es bemerkte? Ihre schüchterne Blicke sah? Das ukrainische Mädchen nahm sich vor, mit Käthe darüber zu reden. Sie hatte bestimmt eine Idee, wie sie mit dem jungen Mann in Kontakt treten könnte. Sie hatte sich heut viel vorgenommen. Zuerst kümmerte sie sich um die Wäsche, bügelte auch Käthes Kleidung und hing ihren Tagträumen nach, während sie aufräumte. Olga liebte Ordnung und Sauberkeit. Es gab ihr ein Gefühl der Sicherheit. Eine Sicherheit, die sie als Kind nie hatte.
Am kommenden Montag begannen die Bauarbeiten am Hof, es würde laut werden in den nächsten Wochen und Monate. Zwei Lieferwagen, ein Kran-Fahrzeug und erste Baumaterialien waren draußen schon zu sehen. Rita kochte, Olga spülte und räumte hinterher alles auf. So wie immer, genauso gefiel es ihr. Doch Rita sah besorgt aus und wirkte traurig. Vorsichtig fragte Olga nach. „Rita, bist du krank? Was ist denn mit dir?“ Lange schaute Rita das dünne Mädchen mit dem schiefen Gesicht an. Dann nahm sie es in den Arm und antwortete ehrlich: „Weißt du, ich mache mir ernsthafte Sorgen um Georg und Uwe. Auch bin ich traurig, weil Georg uns so oft alleine lässt. Jetzt, wo doch die Bauarbeiten beginnen.“ Olga nickte. „Mhmm, aber ich bin ja bei dir.“ Sie tätschelten sich gegenseitig den Rücken, gingen dann wieder ihrer Arbeit nach. Aaron sprang herbei und kläffte, als hätte er verstanden, was die beiden Frauen redeten.
Olga dachte immer noch an Käthe, hoffte so sehr, dass deren Mutter gesund und munter bald wieder am Leben teilnehmen konnte. Käthe hatte versprochen sich zu melden. Am Festnetz-Telefon, denn Olga hasste Internet und Mobiltelefone. Man konnte so viele schlimme Sachen damit anstellen. Sie ging ins Zimmer, trat auf den Balkon, atmete die gute Landluft tief ein und sah dabei in die Ferne. Sie erblickte die Berge, die teilweise wolkenverhangen waren und die Dächer der anderer Höfe. Sie fühlte sich unglaublich wohl und glücklich hier. Für kein Geld der Welt würde sie jemals wieder weggehen.
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Es war Freitag Nachmittag und Moni hatte die Visite verschlafen, sie öffnete erst ihre Augen, als ihr plötzlich kalt wurde. Entgeistert starrte sie zwei fremde Menschen an, die sich an ihr zu schaffen machten. Sie schrie wieder laut los, das war im Moment alles, was sie tun konnte. Sie hörte Stimmen, verstand aber den Sinn nicht. Ihr war eiskalt, sie fühlte sich unwohl. Durch den schrillen Schrei wurde Käthe wach, diese war auf dem Stuhl neben dem Bett eingenickt. Schnell nahm sie die Hand ihrer Mutter und redete auf sie ein. „Mama, das sind zwei liebe Krankenschwester, die Heidi und die Maria. Sie waschen dich, weil du es noch nicht selber kannst. Sie kümmern sich um dich!“ Moni starrte das dritte menschliche Wesen an und schrie noch einmal ganz laut. Aber irgendetwas kam ihr plötzlich bekannt vor. Es war wie ein Blitz in ihrem Kopf, welcher doch so höllisch schmerzte. Ein eigenartiges Gefühl stieg in ihr hoch, gleichzeitig machte sich eine unendliche Traurigkeit breit, Tränen rannten über ihr Gesicht. Ab und zu stieß sie einen lauten Schrei aus. Noch mehr Menschen waren nun versammelt. Alle starrten sie an. In was für einen Blödsinn war sie nur geraten? Hatte sie etwas Verbotenes angestellt? War sie in einem fremden Keller eingesperrt? Gefesselt und geknebelt? Wie in den vielen Filmen, die sie mit ihrem Mann angeschaut hat?
Apropos Mann, wo war er denn schon wieder?
Sie hatte tausend Fragen, war aber viel zu müde auch nur einen richtigen Gedanken zu fassen. Schnell versuchte sie, sich zu verstecken, und schloss ihre Augen. Doch hörte sie immer noch die Stimmen. Sie musste sich dabei sehr konzentrieren, und genau da lag das Problem. Es funktionierte einfach nicht.
Dr. Uwe Ortner stand lächelnd vor Käthe und Moni. „Liebe Käthe, nach dem künstlichen Koma, dauert es oft lange, bis die Systeme wieder richtig hergestellt sind. Hab keine Angst , deine Mutter ist immer noch in der Aufwachphase, das braucht seine Zeit. Habe Geduld und sei einfach für sie da.“ Tapfer nickte Käthe und schluckte. Warum nur war sie auf die Idee gekommen, dass alle so wie früher wäre, sobald ihre Mutter aufwachen würde. Deprimiert ging sie nach draußen, um sich Kaffee zu holen und mindestens drei Zigaretten zu rauchen.
Die Schwestern beendeten ihre Arbeit. Moni duftete nach Seife und frischer Wäsche, sie schlief inzwischen wieder tief und fest. Der Arzt überprüfte zum wiederholten Male die Vital-Werte und kontrollierte die Wunden. Noch einmal nahm er Blut ab, um auch die Entzündungswerte zu kontrollieren. Eine Amputation brachte manchmal Komplikationen mit sich. Die Schmerzmittel-Dosierung musste er beibehalten, damit sich der Körper weiterhin erholen konnte. Trotz allem war Frau Häberle bereit für die Familie.
Bis dahin ging er in sein Appartement, um eine Kleinigkeit essen und mindestens eine Stunde schlafen. Georg würde ihn solange auf Station vertreten. Schließlich gab es noch andere Patienten, welche es zu versorgen galt. Uwe hatte immer noch ein schlechtes Gewissen. Er würde das mit dem Alkohol schnell in den Griff bekommen müssen. Doch genau jetzt, als er diese Gedanken hatte, verspürte er schon wieder Lust auf das Brennen im Hals.