Es war schon spät, als Uwe an Monis Zimmertür klopfte und diese leise öffnete. Er blieb hinter der Türe stehen und blickte zu seiner Patientin. Moni saß im dunklen Zimmer und schaute einen Film. „Guten Abend, darf ich zu später Stunde noch stören?“ „Aber natürlich, ich hab doch schon auf dich gewartet.“ Uwe setzte sich auf den Stuhl neben ihrem Bett, nahm ihre Hand, streichelte sie wie immer und beide lächelten sich zu. „Ich hatte heute eine Menge zu tun und bin sehr erleichtert, dass Victor morgen wieder Dienst hat. Leider haben wir noch keinen Ersatz für Peter gefunden.“ Moni kannte die Geschichte von Susan und dem Oberarzt Dr. Wahl, schließlich hatte Uwe ihr jeden Abend alles erzählt. „So ein Mistkerl, so ein trauriger!“
„Egal, ich bin dabei, das Ganze zu vergessen. Sie sind es beide nicht wert. Was wirklich zählt, ist das jetzt und hier. Und du! Hattest du einen schönen Tag mit deinen Zwergen?“ Lächelnd plauderte Moni drauflos. Zum Schluss erklärte sie ihrem Arzt, dass sie immer wieder Kopfschmerz-Attacken hatte. Uwe nickte, „Ja, leider kann das noch einige Tage oder sogar Wochen andauern. Du hattest dir eine schwere Kopfverletzung zugezogen, daher musst du dich auch weiterhin schonen, ausruhen und gaaaaanz langsam ins Leben zurück kehren. Ab morgen ändern wir deine Medikamente. Außerdem möchte ich Ellenbogen und Sprunggelenk röntgen, Victor wird sich die Knochen und die Frakturstelle ansehen. Bestimmt können wir dich bald von dem einen oder anderen Gipsverband befreien. Nächste Woche darfst du auch langsam den rechten Fuß belasten, du bekommst spezielle Schuhe wegen den Amputationen...“ „Boahhh, mir wird ganz schlecht, ich wills gar nicht so genau wissen, ich vertrau dir einfach“. Moni lächelte ihren Arzt an und kuschelte sich an ihn. Schnell nahm er sie zärtlich in den Arm und gemeinsam schauten sie in den Flimmerkasten. Beinahe wären die beiden so eingeschlafen, da klingelte Uwes Telefon.
„Uwe, wie geht es dir? Bist du alleine? Ich habe eine Idee, hör zu!“ Es war Georg und Uwe verabschiedete sich von seiner einschlafenden Patientin. Er spazierte ins Arztzimmer und lauschte den Worten seines Vaters.
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Schon früh am Morgen saß Käthe im Bus nach Montan. Heute fühlte sie sich richtig gut, obwohl die letzten Tage sehr stressig waren. Sie liebte das Fahren mit Bus und Bahn, hatte ihre Lieblingsmusik in den Ohren, schaute aus dem Fenster und hatte das Gefühl, dazuzugehören. Sie freute sich auf das kleine Abschiedsfest, aber auch auf die Zeit danach, wenn ihre Schwester mit den Kindern wieder weg waren. Denn viel Ruhe, Spaziergänge mit Aaron und gemeinsame Stunden mit Kim standen auf ihrem persönlichen Reha-Plan.
Nach einer wilden, stürmischen Begrüßung vom Schäferhund stiefelte sie Richtung Stall und rauchte drei Zigaretten mit Franz. Gerne erzählte sie ihm von Innsbruck, ihrer Mutter und natürlich von Kim. Er war der beste Zuhörer, den man sich vorstellen konnte. Kurze Zeit später stand sie in der Küche und bereitete den Teig für das Stockbrot vor. Rita und Elsbeth halfen ihr gerne bei den Vorbereitungen. Sie hatten früh morgens das traditionelle Bergbauernbrot von Montan gebacken, welches sie nun in eine Box legte. In der Kiste fehlten noch Senf, Ketchup und Servietten. Da es ziemlich kalt war, bereiteten sie eine Art Kinderpunsch zu. Die Würste mussten nur noch aus dem Kühlhaus geholt werden. Georg spazierte mit Franz Richtung Wald, sie suchten nach geeigneten Äste und Stöcke. Das gespaltene Holz lagerte für ein gemütliches Lagerfeuer neben dem Schwenkgrill. Bei Einbruch der Dämmerung sollte es brennen, außerdem wollte Georg die Überraschungsgäste ankündigen. Lina versuchte in der Zwischenzeit das Chaos im Gästezimmer in den Griff zu bekommen und stopfte völlig kopflos Kleider, Spielsachen und Utensilien in die Koffer. „Ich hasse es!“
Olga dagegen war die Ruhe selbst. Das ukrainische Mädchen hatte sich zum Babysitten eingeladen und bastelte mit den Kindern ein letztes Mal. Sie träumte davon, eine eigene, große Familie zu gründen. Aber das war ein schwieriges Unterfangen. Denn zuerst müsste sie einen geeigneten Mann finden. Doch genau da war Problem, sie wollte das ja gar nicht. Nie im Leben! Durch die vielen Misshandlungen würde sie sich niemals nackt ausziehen. Außerdem hatte sich bis jetzt noch kein Mann wirklich für sie interessiert. Sie war halt nicht schön. Sogar das Gegenteil, sie war hässlich. Das wusste sie. Aber sie hatte Rita und Georg. Die wunderbarsten Menschen auf der ganzen Welt.
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Die Aktion begann pünktlich um 15 Uhr nach der Übergabe und Visite mit seinem Oberarzt Victor. Heidi und Uwe stellten einen Rollstuhl und zwei Wolldecken bereit. Das Fahrzeug parkte direkt vor dem Eingang.
Moni hatte ihre Übungen beendet und war enttäuscht, weil es keinen Deut vorwärtsging. Obwohl Victor ihr morgens die Röntgenbilder gezeigt und vieles erklärt hatte, wurde sie ungeduldig. Seit dem Mittagessen hatte sie wieder diese nervigen Kopfschmerzen bekommen. Es war so, als klopfte ständig jemand von innen gegen ihre Schläfen. Sie war erschöpft und müde, deshalb zog sich die Decke über den Kopf. Doch mitten in einem Traum wurde sie jäh geweckt.
„Hey, was isn los? Ich will meine Ruhe!“ Da sah sie den Chefarzt und Schwester Heidi breit grinsend vor sich stehen „Aufi gohts“, flötete Heidi. „Bitte aufstehen! Überraschung!“ „Oh nein, ich glaub ich mag keine Überraschungen.“ Dann erkannte sie die Unsicherheit in Uwes Gesichtsausdruck und setzte sich an den Bettrand. Sie zwang sich zu einem Lächeln und fragte ihn freundlich: „Also gut, was muss ich tun?“ „Bitte ziehe dir bequeme Kleidung an, brauchst du Hilfe?“ Moni nickte, „Ok, wir brauchen zehn Minuten.“ Schwungvoll beförderte sie kaltes Wasser ins Gesicht. Heidi half Moni beim Anziehen des neuen, extra weit geschnittenen Jogginganzuges. Mit schnellen, geschickten Handgriffen steckte sie ihr die langen Locken zu einer praktischen Frisur hoch. Ein wenig Creme ins verknitterte Gesicht, einige Spritzer des neuen Parfums und schon war Moni ausgehbereit. Zum Schluss legte Heidi die Fleecejacke über Schulter und Rücken.
Uwe hatte sich ebenfalls umgezogen. Moni hätte ihn beinahe nicht erkannt. „Huch, mein Gott siehst du jung aus.“ Vor allem sah er übelst gut aus, ein richtiger Augenschmaus war er, der Herr Chefarzt. Einige der lockigen Strähnen hingen ihm ins markante Gesicht, die blauen Augen leuchteten freundlich, dabei war der Dreitagebart das i-Tüpfelchen. Doch das sagte sie ihm lieber nicht. Sicherlich wusste er von seiner Wirkung auf Frauen. In einer knackigen, ausgewaschenen Jeans, bequemen Sneakers und kariertem Flanellhemd schob er seine verunsicherte Patientin durch die langen Klinikgänge. Mit dem Aufzug fuhren sie ins Erdgeschoss. Hier am Kiosk und an der Information herrschte reges Treiben, es war ziemlich laut. „Huiuiui, da wird mir ja ganz schwindelig.“ „Ja, das glaube ich gerne. Wenn du es nicht mehr aushältst oder Schmerzen bekommst, bitte gib mir sofort Bescheid!“ Moni nickte, lächelte inzwischen, denn sie vertraute Uwe. Er war ja schließlich ihr Arzt.
Umständlich buxierte er den Rollstuhl in das Transportfahrzeug, fixierte ihn an der Halterung und schnallte Moni mitsamt dem Stuhl an. „Wir gehen auf große Fahrt! Bitte genieße die Aussicht!“ Seine Notfalltasche legte er auf den Beifahrersitz. Im Spiegel erkannte er den durchaus skeptischen Blick seiner Rollstuhlfahrerin. Moni dachte an eine Art Stadtrundfahrt und hatte dazu eigentlich gar keine Lust. Den Rollstuhl mochte sie vom ersten Tag an überhaupt nicht. Aber sie wollte Uwe für diese liebe Idee natürlich nicht kränken und entspannte sich. Moni sah leider nur wenig von der schönen Innsbrucker Bergwelt, da erkannte sie die Sprungschanze und las auf den Straßenschildern Namen wie Brenner und Italien. Sie bedauerte die schlechte Sicht an dem heutigen Novembertag. Uwe saß hochkonzentriert am Steuer, schon lange hatte er kein größeres Fahrzeug mehr gefahren.
Sie fuhren inzwischen auf einer kleineren Landstraße, Moni fragte wie ein Kleinkind: „Wo fahren wir denn hin? Wie lange dauert es noch?“ Uwe schmunzelte, „Gleich, gleich, noch ein wenig Geduld oder musst du womöglich zur Toilette?“
Uwe setzte den Blinker und bog auf eine schmale Straße ab, die nicht breiter war wie ein Feldweg. Schließlich sah sie den Wegweiser auf dem Montan stand, dann machte es klick und sie hatte kapiert.
„Ach nein“, sie erschauderte. Da liefen auch schon ein paar Tränen über die Wange.