Uta und Otto hatten beschlossen, dass sie den nächsten Anruf der Klinik abwarten wollten, um danach in Ruhe mit Monis Töchtern zu reden. Uta hatte mit Paul, dem Vater der beiden, vereinbart, dass er am Nachmittag mit Lina vorbeikommen solle, da es wegen Moni „etwas“ zu besprechen gab.
Ihren Bruder Johann wollte sie zur Besprechung wenigstens am Telefon dabei haben. Er würde erst morgen, am Samstag, in die Heimat kommen. Während Otto unterwegs war, um Käthe abzuholen, kochte Uta die Lieblingsspeisen der ganzen Familie. Das waren Maultaschen mit Kartoffelsalat und Maultaschen in der Brühe. So war für jeden Geschmack etwas dabei. Es würde ein harter Tag für alle geben. Irgendwann hätten sie bestimmt Hunger. Uta selbst hatte sich von dem Schock noch lange nicht erholt und musste immer wieder weinen.
***
Auf dem Huber-Hof in dem kleinen Dorf Montan begann der Tag wie jeder andere. Franz ging mit Max kurz nach sechs in den Stall, um die Kühe zu melken. Jetzt wo Georg nicht da war, half ihm der Schwiegersohn, sie hatten ihren eigenen Hof gleich nebenan. Rita war schon in der Küche und bereitete das Frühstück zu. Olga durfte bis sieben Uhr schlafen. Der Sprecher im Radio kündigte ein wunderschönes, sonniges Herbst-Wochenende an, darüber freute sich Rita sehr und auch darüber, dass Georg bald wieder nach Hause kam.
Seit dem Tod ihres geliebten Mannes vor sechs Jahren kümmerte er sich so liebevoll um sie und um den kompletten Hof. Er hatte viel Geld für die Renovierung des Hauses und den Neubau des modernen Laufstalls für die gefährdete Rasse Tux-Zillertaler investiert. Wann immer es ihr schlecht ging, war er für sie da. Er liebte das Dorfleben, war inzwischen im Dorfgemeinschaftsrat und sie waren zu einem großartigen Team zusammengewachsen. Inzwischen hegte sie tiefe, ernsthafte Gefühle für diesen tollen Mann, traute sich jedoch nicht, dies ihm gegenüber zuzugeben. Es war ihr stilles Geheimnis, noch. Irgendwann in den nächsten Wochen würde sie Andeutungen machen, schließlich würden sie auch nicht mehr jünger werden. Sie lächelte und briet Spiegeleier mit Speck und Kartoffeln an. Es duftete wunderbar, als Olga in die Küche kam. Die beiden Frauen lächelten sich an und jede war dankbar und hatte seine Aufgaben an diesem Freitag.
***
Uwe wusste, dass er nun die Familie informieren sollte. Von Nicole hatte er eine Liste mit Namen und Telefonnummern erhalten. Scheinbar war die Schwester von Frau Häberle die erste Ansprechpartnerin. Er ging in die Cafeteria der Klinik, bestellte sich einen doppelten Espresso, dazu einen Mandarinenkuchen und suchte sich einen ruhigen Platz zum Telefonieren und machte es ich bequem. Es überraschte ihn selbst immer wieder, wie er in solchen Situationen ruhig und gelassen bleiben konnte und einen kühlen Kopf behielt. Er hatte diese Eigenschaften bestimmt von seinem Vater vererbt bekommen.
Der Anruf kam gegen 16.00 Uhr. Käthe, Lina, Paul, Uta und Otto saßen gemeinsam am Küchentisch, zwei große Kannen Kaffee und ein paar Flaschen Bier standen darauf und Uta machte den Lautsprecher des Telefons an: „Guten Tag, liebe Angehörigen von Frau Moni Häberle, hier spricht Dr. Ortner von der Unfallklinik Innsbruck, ich habe ihnen zu Frau Moni Häberle folgendes mitzuteilen...“ Uta unterbrach ihn, „Bitte, warten Sie einen Augenblick, wir wollten noch unseren Bruder anrufen, damit er übers Telefon mithören kann.“ Danach brach Uta in Tränen aus und Käthe und Lina auch, sie ahnten Furchtbares. „Selbstverständlich“, die ruhige Art, die angenehme und freundliche Stimme des Arztes machte es nur noch schlimmer.
Otto und Paul saßen wie begossene Hunde zwischen den Frauen und konnten nichts sagen. Als Uwe hörte, wie eine weit entfernte Stimme verkündete, „So, ein freundliches Hallo in die Runde, hier ist Johann, ich höre ab jetzt mit“, lehnte sich Uwe auf seinem Stuhl zurück und las der Familie die Verletzungen und Befunde vor und erzählte von den bereits durchgeführten Operationen. Zum Schluss sagte er mit ruhiger Stimme:
„Liebe Familie, ihr geht es in Anbetracht des schlimmen Unfalls erstaunlich gut. Natürlich dauert es viele Monate der Rehabilitation bis Frau Häberle wieder hergestellt ist, dennoch habe ich viel Hoffnung. Die Brüche, Prellungen und Schürfwunden sind sehr schlimm, jedoch nicht lebensbedrohlich. Die beiden Zehen müssen vermutlich amputiert werden, das entscheiden die nächsten zwei Wochen. Einzig das kleine Blutgerinnsel im Schädel stellt ein kleines Problem dar. Wir werden operieren müssen. Aber auch diese Geschichte kann gut ausgehen. Eine genaue Prognose kann es erst geben, wenn Frau Häberle wieder bei Bewusstsein ist. Alles Weitere würde ich Ihnen gerne persönlich mitteilen. Darum möchte Sie bitten, in die Klinik zu kommen. Herr Häberle hat das Unglück leider nicht überlebt. Ich denke, das wissen sie bereits. Das tut mir unendlich leid. Wir haben hier in unserer Klinik sehr gutes Fachpersonal, welches die Angehörigen betreuen kann und wir nehmen uns alle Zeit der Welt. Wir werden all Ihre Fragen beantworten und für sie da sein. Wir lassen Sie nicht im Stich!“
Schweigen
Schluchzen
Otto war der Erste, der etwas sagen konnte, „Herr Dr. Ortner, wir danken ihnen für die ehrlichen und offenen Worte, wir werden morgen nach Innsbruck kommen, auf Wiederhören.“ „Auf Wiederhören, dann sehen wir uns also morgen, das ist gut so. Ich wünsche ihnen viel Kraft für die nächste Zeit und eine gute Anfahrt“. Das Gespräch war beendet und da saßen sie nun. Käthe und Lina fingen beide gleichzeitig an zu weinen, oder eher zu schreien. Otto und Paul versuchten, die beiden zu beruhigen. Johann hatte bereits aufgelegt. Uta lief ins Badezimmer und schloss sich ein.
Uwe legte das Telefon beiseite und holte tief Luft. Puh, es tat ihm immer leid, solche traurige Gespräche führen zu müssen. Er trank seinen Espresso leer und blätterte die Unterlagen durch. Er wollte mehr erfahren. Wer war die sympathische Kämpferfrau mit den schwarzen Locken? Sie hieß Moni Häberle, war 48 Jahre alt, zwei Jahre älter als er und kam aus Deutschland. Genauer aus dem Schwabenland in der Nähe von Stuttgart. Sie hatte zwei Töchter und war bereits Oma. Bei dieser Vorstellung musste er lächeln, denn er liebte Kinder.
Und der Mann Herbert - tot. Schrecklich. Und sie wusste es (noch) nicht. Sie war schwerstverletzt und auf seine Hilfe angewiesen. Er holte nochmals tief Luft, kramte alles zusammen und lief zurück auf seine Station. Sein Handy brummte und summte, als er nachsah, entdeckte er mehrere Mitteilungen von Susan auf dem Display. Im Moment interessierte ihn das nicht. Er hatte nun eine wichtige Aufgabe.
Susan war in München. Ohne ihn. Irgendetwas zwischen ihnen ist kaputt gegangen - aber was?
Und vor allem - warum?