Johann steuerte sein Auto auf den Parkplatz und alle Insassen waren froh über die Ankunft. Uta stieg schnell aus, kramte ihre sieben Sachen zusammen und marschierte los, ohne auf die Männer zu warten. Otto und Johann diskutierten schon wieder, Uta konnte es nicht mehr ertragen. An dem kleinen Kiosk kaufte sie sich einen Kaffee, mit ihm in der Hand ging sie zum Info-Center um sich anzumelden. Der Chefarzt persönlich holte die Angehörigen ab, er war freundlich wie immer, doch dieses Mal brachte er die kleine Gesellschaft in das Besprechungszimmer von Georg.
Dieser klärte sie über die aktuelle Situation auf, so erfuhren sie von der notwendigen Zehenamputation. Daraufhin fing Uta wieder an zu schluchzen. Um sie aufzumuntern erzählte Georg ihr von Käthe, dass es ihr auf dem Hof so gut gefällt, aber dass sie erst morgen nach Innsbruck kommen würde. Danach brachte man Uta zusammen mit Otto in Richtung Station. Johann blieb draußen, er machte lieber einen Spaziergang.
Sie bekamen die notwendige Schutzausrüstung verpasst, bevor man sie zu Moni brachte. Otto hielt seine Frau ganz fest, als sie gemeinsam an Monis Bett traten. Der Anblick war nach wie vor gewöhnungsbedürftig. Sie sah noch ziemlich mitgenommen aus, grün-gelbe Flecken beherrschten das noch immer geschwollene Gesicht. Die vielen Verbände, Schläuche und Katheder erschreckten die Besucher. Die Technik mit den Kabeln, das Piepen, die Monitore und das Geräusch des Beatmungsgerätes verbreiteten eine traurige Stimmung.
Uwe hatte die Dosis des Narkosemittels wieder gesenkt, später würde er das Beatmungsgerät wieder abschalten. Mit viel Geduld und Ruhe beantwortete er alle Fragen. Uta und Otto blieben eine Weile bei Moni am Bett, danach brachten sie den Koffer, die Blumen und alle mitgebrachten Dinge in das vorbereitete Zimmer. Morgen könne man sie hier besuchen. Ob sie aufwacht, wisse man aber nicht.
Abends ging die Familie gemeinsam zum Essen, Johann entschuldigte sich. Uta und Käthe telefonierten miteinander, freuten sich beide auf den nächsten Tag.
Uwe legte sich auf seine Pritsche im Arztzimmer, er schlief sofort ein. Victor war gegangen, auf Station war es ruhig. Dem frisch operierten Patienten mit dem Hirntumor ging es den Umständen entsprechen gut, auch er war stabil. Georg saß auf Abruf bereit im Stationszimmer, er kümmerte sich um seine Post und beantwortete auch allgemeine E-Mails. Immer wieder schaute er bei Moni vorbei, er spürte eine besondere angenehme Energie, wenn er in ihrer Nähe war, das müsse er unbedingt seinem Sohn erzählen.
Als später Uwes Handy-Wecker klingelte, sah er auf dem Display die drei verpassten Anrufe von Susan. Ob er sie zurückrufen sollte? Er musste es tun. Susan meldete sich sofort. „Hey Uwe, wie geht es dir?“
„Ehrlich gesagt nicht so gut.“
„Möchtest du heute Abend mit in das neue Tanzlokal kommen? Wir können mal wieder abfeiern, das würde mich freuen“, Susan versuchte, freundlich zu sein. „Ne du, ich... du hast mich sehr verletzt, ich zweifle an deiner Liebe zu mir. Wenn, dann würde ich dich gerne alleine treffen, zum Reden.“
„Ach Uwe, darauf habe ich überhaupt keine Lust, es ist doch Samstag!“ Verzweifelt raunte Uwe ins Telefon: „Alles klar, dann lass es sein, amüsiere dich schön“, er legte auf, ging zu dem kleinen Spiegel, aber als er sich darin sah, fing er zu weinen an. Nicht schon wieder. Das musste aufhören, das konnte so nicht weitergehen.
***
Nachdem Käthe mit ihrer Tante telefoniert hatte, ging sie in die Küche. Sie hatte mächtig Hunger. Tatsächlich stand auf dem Tisch ein Teller, auf dem lag ein Zettel: Im Topf haben wir für Schinkennudeln übrig gelassen. Bitte bedien dich.
Glücklich aß sie eine große Portion. Franz hatte heute seinen freien Tag, er war in das Gasthaus zum Kartenspielen gegangen. Sie fand das schade.
Das psychisch kranke Mädel aus der schwäbischen Einrichtung war an diesem Abend mit Tina und Max im Kuhstall zu Gange. Einen ganz modernen Lauf-Stall aus heimischem Holz hatten sie für die Tux Zillertaler Rinder gebaut. Mit viel Platz, Kratz- und Putzmaschinen, sogar einem kleinen Außenbereich. Die Tiere konnten sich hier frei bewegen und jederzeit nach draußen gehen. Nur bei extrem schlechten Wetter wurde dieser Bereich geschlossen, zum Schutz der Kühe. Es gab extra Liegeplätze mit viel Stroh. Die Futterstellen waren so gebaut, dass die Kühe das Futter nur mit den Köpfen erreichen konnten. So war es immer frisch und sauber. Man legte sehr viel Wert auf Sauberkeit und auf das Wohl der Tiere. Daneben war der Melkbereich. Auf dem Schrägdach war eine Photovoltaikanlage angebracht. Es gab noch zusätzlich einen Dieselgenerator, falls das Stromnetz zusammen brechen sollte.
Käthe gefiel das komplette Konzept des Hofes, ach was würde es ihrer Mutter hier gefallen, wunderbar war der Hof! Derzeit waren es neun Tiere. Bald würde jedoch Nachwuchs kommen. Tina versprach Käthe, dass sie gerne bei einer Geburt dabei sein konnte.
Aus der frischen Milch wurde Joghurt, Käse, auch Butter gemacht. Franz war auch Käser. Im Winter brachten sie die Milch runter in die kleine Dorfmolkerei. So viele Informationen an einem Tag.
Aaron bellte draußen nach Käthe, er durfte schließlich nicht in den Stall. Ein wohliges Gefühl breitete sich bei Käthe aus. Gut gelaunt lief sie mit dem Schäferhund zurück ins Haus.
Drinnen suchte sie nach den Frauen. Olga saß mit Rita im Handarbeitszimmer. Die eine nähte, die andere stickte, dabei hörten sie russische Lieder. „Hallo, bei euch ist es ja gemütlich. Habt ihr auch Wolle oder Garn zum Häkeln? Ich würde auch gerne bei euch sitzen.“ Olga freute sich, sprang sogleich auf, schnappte sich Käthe und gemeinsam durchsuchten sie das große Regal. Rita holte Tee sowie kleine selbstgemachte Pralinen. Die Frauen unterhielten sich über Musik und Handarbeit, Käthe berichtete, dass ihre Mutter sehr gerne strickte. Aaron legte sich auf Käthes Füße und machte es sich bequem. So hatte sie einen Samstagabend noch nie verbracht. Sie vermisste ihren Laptop und das Internet keine Minute.
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Das zuckende, grelle Nichts machte sich auf den Weg zurück. Mit einem Klopfen und Hämmern wehte es wie ein Wirbel und nahm sie mit auf eine schwindelerregende Reise. Sie konnte sich nicht festhalten, da war Nichts. Nebelschwaden zogen vorbei, sie waren nicht greifbar und doch so nah. Das Hämmern und Pochen wurde lauter und lauter. Sie wollte schreien, doch wusste nicht wie. Es war nur ein Zustand, so wie ein Gefühl.