Rita, Georg und Olga waren an diesem Sonntag sehr fleißig. Es sollte heute noch einmal ein wunderschöner, sonniger Tag werden. Sie hatten von Mai bis Mitte Oktober an den Wochenenden ihren kleinen Ausschank offen. Bis 14.00 Uhr mussten sie noch einiges erledigen. Sonntags gab es zusätzlich zu eigenem Käse, selbst gebackenem Brot, Milchprodukte und kalten Getränke, auch Kaffee und Kuchen. Zusammen mit Franz und Max hatte Georg die Kühe gemolken. Diese durften heute zum letzten Mal auf die große Weide. Rita hatte bereits den zweiten Kuchen im Ofen und Olga kümmerte sich um das Geschirr, räumte auf und bereitete draußen die Tische und Stühle vor.
Gleich wollte sie mit Rita in die Kirche. Heute kam der neue Orgelspieler und das ganze Dorf Montan war schon sehr gespannt auf ihn. Olga musste herzhaft gähnen, auch sie war müde. Durch die nächtliche Ankunft von Georg wurde Olga wach und hörte eigenartige Geräusche, welche sie nicht unbedingt den älteren Herrschaften zugetraut hätte. Zuerst erschrak sie, dann aber musste sie lächeln und freute sich für die beiden.
Das Mädchen aus der Ukraine hatte eine schlimme Kindheit hinter sich. Von den eigenen Eltern bekam sie jahrelang Schläge, wurde oft tagelang eingesperrt und total vernachlässigt. Eines Tages konnte sie abhauen, man fand sie abgemagert und verwahrlost in einem Industriegebiet. Durch eine Organisation, die sich für Mädchen einsetzte, kam sie nach Innsbruck. Der Aufenthalt auf dem Hof hier in Montan tat ihr sichtlich gut. Ab und zu fuhr sie mit Georg in die Klinik. Dort gab es einen wunderbaren Therapeuten, dem sie sich immer wieder öffnete, um das Geschehene zu verarbeiten. Den Sprachunterricht übernahmen Georg und seine Tochter Tina. Olga liebte es, mit den beiden Kindern zu spielen, so gerne wäre sie selbst noch eins.
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An diesem Abend saß Uwe neben Moni am Bett und betrachtete sie lange. Schrecklich sah sie aus. Immer noch war das ganze Gesicht geschwollen und blutunterlaufen, der Schlauch aus ihrem Schädel machte den Anblick nicht besser. Er wusste nicht so recht, warum er hier saß, aber Monis Nähe gab ihm eine gewisse Ruhe. Es tat ihm gut, die monotonen Geräusche der Maschinen und das Piepsen zu hören.
Die Angehörigen der Verunglückten und auch sein Vater waren wieder nach Hause gefahren. Käthe, das arme Ding, war auf ihrem Zimmer. Inzwischen war auch er sehr müde und niedergeschlagen. Die letzten Tage waren turbulent und die Sache mit Susan machte ihn schlapp. Er hatte doch nichts falsch gemacht. Warum nur lief alles in die falsche Richtung? Womöglich liebte er sie nicht mehr, vielleicht ging es ihr genauso. Der Chefarzt überprüfte ein letztes Mal Monis Vitalwerte und den Monitor, streichelte vorsichtig ihre linke Hand, schnappte sein Pad und aktivierte die Überwachungskamera. Danach ging er in sein Ärztezimmer. Hier wartete noch jede Menge Schreibkram. Wenn er Glück hatte, fand sich auch noch eine Schachtel Schnapspralinen. Später musste er mit Maria seine Nachtrunde machen.
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Käthe hatte zwölf Stunden durchgeschlafen, fühlte sich dennoch gerädert. Langsam stand sie auf, ging direkt in die Küche, um nach Kaffee Ausschau zu halten, danach tappte sie auf den Balkon und rauchte drei Zigaretten hintereinander. Wie so oft. Nach einer Stunde stand sie frisch geduscht am Haupteingang der Klinik, kaufte sich beim Bäcker belegte Brötchen, eine Cola Zero, zwei Schachteln Zigaretten und suchte sich draußen einen Platz in der Sonne. Sie hatte den Laptop dabei und versuchte, ein wenig kreativ zu sein. Für Ende September war es ziemlich warm und sie fühlte sich wohl in diesem Innsbruck, umrahmt von den schönen Bergen.
Georg stieg aus seinem Wagen, da sah er auch schon das Mädchen. Er rief ihr von weitem zu: „Hallo Käthe, wie geht es dir denn heute?“
„Ach ja, es geht so“.
„Kommst du bitte um 14.00 Uhr zur Station K1, du hast heute deinen ersten Termin bei Dr. Marowski! Danach erwartet dich noch eine Überraschung“, zwinkerte Georg, dann eilte er in Richtung Klinik. Käthe sah ihm lächelnd hinterher. Sie dachte an ihre Mama, wurde wieder traurig, packte alles zusammen und ging in ihr kleines Zimmer. Sie wollte so gerne Klarinette spielen, Wäsche waschen, zeichnen, vor allem aber zu ihrer Mutter gehen. Ihr Handy schaltete sie aus. Auf einen Block schrieb sie alle Fragen, die sie hatte, danach machte sie sich auf den Weg, um Nicole zu suchen.
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Inzwischen hatte die Nachricht von dem furchtbaren Unglück alle Verwandte, Bekannte, Freunde, Nachbarn und auch Arbeitskollegen erreicht. Tiefe Betroffenheit breitete sich aus. Herberts Schwester Klara kümmerte sich um die Beerdigung und um eine kleine Abschiedsfeier. Herberts Vater und die Söhne waren immer noch nicht ansprechbar, starrten Löcher in die Wand. Uta und Otto kamen vorbei und boten ihre Hilfe an. Trauerkarten füllten den Briefkasten, Blumen und Kerzen wurden vor die Haustüre gebracht. Der Pfarrer bot seine Hilfe ebenfalls an. Trauerarbeit ist sehr wichtig, das Leben der Angehörigen musste schließlich weiter gehen; mit dem Geschehenen umzugehen und loszulassen ist ein wichtiger Prozess, um nicht daran zu zerbrechen. Eine schwere Zeit.
Uta und Otto fuhren zu dem italienischen Bauunternehmen, bei dem Moni als Bürokauffrau zusammen mit der Tochter des Chefs die Verantwortung hatte. In kurzen, sachlichen Sätzen erklärte Otto was passiert war. Große Bestürzung auch hier, unfassbar starrte der ältere Mann die beiden an. "Was? Wie bitte? Aber, aber das gibts doch gar nicht."
Wieder zuhause erkundigte sich Uta in der Klinik nach Moni, versuchte auch Käthe telefonisch zu erreichen, doch ihr Handy war ausgeschaltet. Sie machte sich Vorwürfe und Sorgen und musste wieder Beruhigungstabletten nehmen. Mit Lina und ihrem Vater hatte sie ebenfalls schon gesprochen, dort war die Lage nicht besser. Die Kinder Gerhard und Irene hatten es noch nicht richtig begriffen, wussten aber, dass Opa Herbert jetzt im Himmel mit den Wolken fliegt und sie von oben beschützen würde. Gerhard meinte, „Ach so, gibt es auch männliche Engel?“ Dann weinte er leise. Die Kinder waren oft bei Oma und Opa gewesen, hatten zusammen immer viel Spaß gehabt und viel gelacht. Vor allem hatte Opa ihm zu seinem vierten Geburtstag ein Messer geschenkt und sie hatten witzige Figuren geschnitzt.