Käthe hatte tatsächlich zwölf Stunden geschlafen, fit war sie dennoch nicht. Es war Freitag und sie würde dieses Wochenende bei ihrer Tante Uta verbringen. Sie freute sich schon sehr darauf und war hoch motiviert. Es war immer so lustig und schön bei der Tante. Frisch geduscht und fröhlich stand sie mit Sack und Pack schon um 9.00 Uhr bereit. Onkel Otto wollte sie erst gegen 11.00 Uhr abholen. Über diese Tatsache musste sie selber lächeln und ging ins Haupthaus, um in Ruhe mit den anderen zu frühstücken. Ihren großen Rucksack mit den Klamotten und den Hygieneartikeln, ihre Handtasche mit allen wichtigen Dinge des Lebens, Handy mit Ladekabel und Kopfhörer, die Laptop-Tasche und ihren Klarinettenkoffer stellte sie im Flur ab und begrüßte die anderen Mitbewohner. Wie immer wenn sie in das Wochenende ging, hatte sie fast ihren kompletten Hausstand dabei, es fehlten nur noch die Medikamente, die sie jetzt abholen wollte und eben das Frühstück.
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Kurz vor 9.00 Uhr lenkte Georg den Wagen auf den Parkplatz der Klinik. Uwe saß hochkonzentriert auf dem Beifahrersitz. Beide waren an diesem Tag früh aufgewacht, hatten aufgeräumt, gepackt und mit Susan gesprochen. Diese würde die Schlüsselübergabe mit den Lauterbachs übernehmen und das Haus in dem perfekten Zustand verlassen, wie sie es angetroffen hatten. Uwe verabschiedete sich mit einem flüchtigen Kuss, doch Susan flüsterte ihm ins Ohr, „Schatz, ich komme Sonntag Abend wieder, entschuldige wenn ich doof war. Ich glaub es sind die Hormone.“ Doch Uwe war mit den Gedanken bereits in der Klinik und bereitete sich mental auf die bevorstehende Operation vor.
Als der Chefarzt seine Station K1 erreichte, schoben sie Moni gerade in das vorbereitete Intensivpflege-Zimmer. Er begrüßte seine Kollegen und Mitarbeiter. Bei einem gemeinsamen Frühstück gab es die erste Besprechung. Oberarzt Dr. Peter Wahl war so müde geworden, dass er schon seit zwei Stunden schlief. Maria war ebenfalls gegen 6.00 Uhr total übernächtigt ins Nachtlager geschickt worden. Uwe war sehr bestürzt über den Tod von dem Ehemann Häberle. Es war jetzt die Zeit gekommen, in der der Chefarzt sich persönlich um Frau Häberle kümmern wollte. Victor übernahm gemeinsam mit Georg die kleine Visite.
Ein Meer aus schwarzen langen Locken zwischen all dem Krankenhaus-Weiß. Ein Gewirr aus Kabeln, dicken und dünnen Schläuchen, welche in den Körper rein oder raus gingen, piepsende Monitore, Überwachungskameras, mehrere Beutel mit verschieden farbigem Inhalt rechts und links des Bettes und überall neue, hochmoderne Technik. Jedoch blieb Uwes Blick immer wieder auf dem schwarzen Locken-Meer hängen. Eine dünne Decke bedeckte den hilflos ausgelieferten Körper. Damit die Koma-Patienten ein Stück ihrer Würde behielten, achteten sie in dieser Klinik auf solche wichtigen Details. Während der rechte Fuß in einem riesigen Verband steckte, lugte der linke Fuß unter der Decke hervor. Noch nie hatte Uwe solch wunderschöne, wohlgeformte und gepflegte Zehen gesehen. Die Nägel leuchteten pink und die Anatomie zeigte sich an diesem Körper in ihrer schönsten Vollendung.
Er trat näher ans Bett, sah in ein geschwollenes, aufgeschürftes Gesicht mit großen Blutergüssen unter den Augen – wahrlich kein schöner Anblick und dennoch: Er fühlte ein leichtes Kribbeln im Bauch. Vorsichtig nahm er Monis Hand, welche wunderschöne, wohlgeformte, zarte und schmale Finger besaß und flüsterte leise: „Hallo, wer bist du denn? Ich bin Uwe, willkommen in Innsbruck in meiner Klinik, was hast du bloß angestellt? Warum hast du denn nicht aufgepasst? Ich verspreche dir, wir tun alles was in unserer Macht steht. Wir kriegen dich wieder hin“. Das Kribbeln wurde stärker, er spürte ein leichtes Ziehen in der Herzgegend.
Hoppla! Was war das denn? In all seiner Zeit als Arzt war ihm das noch nie passiert. Er schüttelte sich und konzentrierte sich auf seine Aufgaben, überprüfte alle lebenswichtigen Funktionen. Dann schaute er sich die Röntgenbilder, Befunde und Ergebnisse an. Die Operationen, die hinter Moni lagen, waren schwerwiegend und hatten sehr lange gedauert. Er konnte unmöglich heute eine weitere OP ansetzen. Und was sollte er mit den Haaren machen? Die schwarzen langen Locken, welche sich in sein Hirn gebrannt hatten, konnte er doch nicht abrasieren lassen. Er würde sich etwas einfallen lassen müssen. Chefarzt Dr. Uwe Ortner ging langsam aus dem Zimmer, warf dieser Frau Häberle einen letzten Blick zu und schritt eilig ins Ärztezimmer, in dem er sein weiteres Vorhaben mit Victor und Georg besprechen wollte.
Georg hatte unterdessen auf dem Hof seiner Schwägerin Rita in Montan angerufen und nachgefragt, ob alles in Ordnung wäre, da er noch weitere Tage in der Klinik aushelfen wollte. Er hatte ihr kurz den Sachverhalt erklärt und versprochen er würde bald wieder bei ihr sein. Rita versicherte ihm, dass Franz gemeinsam mit Max alles im Griff hätte, sie ihn aber ein wenig vermisste. Über diese Tatsache musste Georg schmunzeln, denn seit dem Tod seiner Frau hatte er sich viele Gedanken über Rita und einer gemeinsamen Zukunft gemacht. Schließlich war er inzwischen 70 Jahre alt und er wohnte bereits seit sechs Jahren dort.
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Freitag nachmittags machte sich der erste kleine Konvoi auf den Weg vom Schwabenländle nach Innsbruck. Was sonst eine Urlaubsfahrt war, wurde zu einer lästigen, sehr traurigen Angelegenheit. Klara weinte die ganze Fahrt über und niemand im Auto konnte sie trösten, weder ihr Mann noch ihre Tochter. Es würde einiges auf sie zu kommen. Eine Überführung eines Leichnams vom Ausland ist mit viel Aufwand verbunden, daher waren sie dankbar, dass sich ihre Tochter frei nehmen konnte und ihre Hilfe anbot. Im zweiten Wagen saßen Herberts Sohn Axel, seine Freundin und sein Opa, dieser wollte mit seinen 81 Jahren unbedingt mit in das Krankenhaus fahren. Allerdings blickte er nur starr vor sich hin. Er hatte seit dem Anruf noch kein einziges Wort gesprochen. Der alte Mann konnte das Unglück einfach nicht fassen.