Auf dem Tisch stand ein Glas Whiskey, den Laptop hatte er auf seinem Schoß. Noch knappe zwanzig E-Mails musste er beantworten, dann hatte er endlich Feierabend. Ab und zu schweifte sein Blick nach rechts, dann betrachtete er die Frau mit dem schwarzen Lockenmeer. Er lauschte ihren sanften Atemzügen. Immer wieder las er Moni Sätze aus den Nachrichten vor. Bewaffnet mit einer Flasche Whiskey und dem Musik-Stick hatte der Arzt beschlossen, die Nacht hier zu verbringen. Die Ruhe, die von Moni ausging und das wohlige Gefühl, welches er in ihrer Nähe verspürte, hatten ihn auf diese absolut verrückte Idee gebracht. Es war wie eine Kraftquelle für ihn. Er nutzte nun die Chefarzt-Position aus, musste darüber tatsächlich lächeln. Maria hatte ihm geholfen, seine Pritsche in das Zimmer zu schleppen, gleichzeitig war sie sehr besorgt um ihn.
So eine groteske Situation hatten die erfahrene Krankenschwester noch nie hier erlebt. Gerne wäre sie bei ihrem Chef in seinem Zimmer geblieben, hätte ihn getröstet. Ob er wusste, wie sehr sie in anhimmelte? Hatte er es jemals bemerkt? Ob er überhaupt wusste, wie viele Frauen heimlich in ihn verliebt waren? Ausgerechnet an ein Luder war er geraten. Jeder kannte Susan, alle waren schockiert, denn sie hatte nie so gewirkt. Keiner konnte diese gemeine Aktion verstehen.
Fremdgehen! Also bitte!
Uwe hatte sich die Kopfhörer aufgesetzt, der Musik-Stick steckte bereits im Laptop. Er war bereit. Das erste Lied heute war The Arrival von Mike Oldfield. Das kannte er noch von früher, hatte es aber nie wieder gehört. Als zweiter Song kam von der Band City Flieg ich durch die Welt, dieses Lied kannte Uwe nicht, aber der Text gefiel ihm außerordentlich gut, er hörte es sich gleich zweimal an. Dazu schenkte er sich sein Glas voll bis zum Rand. Bei Stairway to heaven von Led Zeppelin kamen die ersten Tränen, schon wieder. Schnell drückte er weiter zum nächsten Lied, es wurde aber nicht besser. Einer seiner Lieblingssänger, Hubert von Goisern, mit dem Song da Juchitzer war nun an der Reihe. Woher um alles in der Welt kannte Frau Häberle ihn? Er war begeistert, gleichzeitig auch sehr verwundert. Dieses Lied hörte er sich in der Unendlichkeitsschleife an und schlief dabei ein.
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Käthe hatte eine unruhige Nacht hinter sich, von Alpträumen geplagt wurde sie immer wieder wach. Die dunklen Wolken waren gekommen und machten ihr das Leben schwer. Es war Freitag und sie hatte sich so sehr auf Innsbruck gefreut. Doch im Moment war ihr alles zu viel. Am liebsten würde sie sich wieder ins Bett legen, Decke über den Kopf und die Welt ausschalten. Das ging natürlich nicht, Aaron erinnerte sie kläffend, dass es ihn auch noch gab. Ein gutes Stichwort, sie seufzte, streichelte den tollen Hund, gab ihm einige Leckerlis und ging mit ihm die Morgenrunde. Das war ihr zweiter Job hier. Mindestens eine Runde täglich mit dem Hund.
Kaum war sie zurück, fragte Georg Käthe mit sehr ernstem Gesichtsausdruck: „Bist du soweit? Wir müssen. Ich bin in Eile.“
Käthe überlegte sofort, ob wie etwas falsch gemacht hätte. Warum ist er so böse? Wegen ihr? „Ja, ähm ja, ich hol schnell mein Zeug“, stotterte sie, während sie immer noch krampfhaft überlegte, was passiert war. Während der Fahrt redeten sie kaum miteinander. Im Auto bemerkte sie das Fehlen des Klarinettenkoffers. Ganz vorsichtig machten sich einige Tränen auf den Weg. Sie sagte nichts, schaute aus dem Fenster und stöpselte sich Musik in die Ohren.
Irgendwann vernahm sie Georgs Stimme ganz leise. „Käthe entschuldige bitte, heute ist kein guter Tag. Bitte nimm es nicht persönlich. Es ist etwas negatives in der Klinik vorgefallen.“ Das Mädel aus dem Schwabenland war dankbar über diese Worte und legte den Kopf entspannt zurück. „Alles klar, ok.“
In Innsbruck angekommen ging Käthe direkt zu Dr. Marowski, während Georg zur Station K1 lief. Als Dr. Uwe Ortner seinen Vater sah, unterbrach er die Visite, welche schon in vollem Gange war. Ohne Worte gingen sie in sein Arztzimmer. Kaum war die Türe zu, brach es aus Uwe heraus. Die beiden Männer hielten sich im Arm, Uwe erzählte seinem Vater die ganze Geschichte. Gemeinsam brachten sie die Visite zu Ende. Danach vereinbarten sie mit der Verwaltungsleitung einen Besprechungstermin, sie mussten einen neuen Oberarzt suchen. Ebenso erstellten sie einen Plan für die nächsten Tage.
Georg würde seinen Sohn im Klinikalltag unterstützen. Zusätzlich wollten sie über Uwes Zukunft reden, vor allem die Wohnungssituation müsste sich dringend ändern. Dann fiel sein Blick auf die drei leeren Whiskeyflaschen, die neben dem Papierkorb standen. Vorwurfsvoll wandte er sich an Uwe, „Sag mal, spinnst du? Hast du sie noch alle?“ Uwe zuckte mit der Schulter. „Ach komm, die sind nicht alle von gestern.“ „Trotzdem! Hast du vergessen, dass du der Chefarzt von einer Gehirnchirurgie bist?“ Georg war sehr verärgert, vor allem über Susan. Wie konnte sich ein Mensch derart ändern? Es war unglaublich.
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Lina, Klara, Uta und Otto trafen sich an diesem Freitag zur gemeinsamen Fahrt nach Innsbruck. Lina freute sich natürlich auch auf Käthe, sie hatten sich lange nicht mehr gesehen. Die beiden verband eine Art Hass-Liebe, es war schwierig, dennoch waren sie Schwestern. Unterwegs gab es immer wieder Staus, so dass sie erst am späten Nachmittag in Innsbruck ankamen. Käthe hatte für ihre Familie zwei Doppelzimmer im nahe gelegenen Gasthof gebucht. Da wollten sie heute zusammen Abendessen. Sie selber hatte wieder das kleine Zimmer bezogen und sich aufs Bett gelegt. Dieses Mal wollte sie nicht im Zimmer von ihrer Mutter schlafen. Aus einem kurzen Mittagsschlaf wurde ein dreistündiger Tiefschlaf. Der heutige Termin beim Psychologen war wichtig aber auch sehr schwer und anstrengend. Danach hatte sie wieder geweint. Total gerädert stand sie auf dem kleinen Balkon, rauchte ihre Zigaretten mit einem großen Kaffee in der Hand und war nicht in der Lage sich zu duschen oder gar herzurichten. Kim wartete unten in der Cafeteria. Sollte sie sich tatsächlich in diesem Zustand mit der süßen Kim treffen?
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Als sich das Nichts in dem Nebel aufzulösen schien, erschrak sie mit solch einer Gewalt, dass sie Angst hatte auseinanderzubrechen. Sie suchte sich überall, es war vergeblich. Das Nichts um sie herum wirbelte so schnell, ihr wurde schwindelig und schlecht. Das Hämmern war so laut, alle ihre Zellen schienen davon kaputt zu gehen. Irgendjemand, irgendeine Macht wollte sie zerstören, da war sie sich sicher. Doch sie würde dagegen ankämpfen. Noch wusste sie nicht wie und vor allem mit was, sie hatte doch nichts.
Leere