Es war Freitag Abend und der Hof lag schon im Dunkeln. Rita stand in der Küche und buk einen Kuchen. Aaron, der Schäferhund, lag vor der Tür zum Stall und wartete auf sein Herrchen. Schon seit Tagen. Olga, die 19 -jährige aus der Ukraine, war dankbar, hier auf dem Bauernhof zu sein. Sie putzte jeden Tag, half Rita in der Küche, kümmerte sich um die Wäsche und ging sonntags brav in die Kirche. Sie war sehr schüchtern und scheu wie ein Reh. Das Mädchen hatte eine schreckliche Kindheit mit viel Gewalt und schlimmen Misshandlungen hinter sich. Über Victor und dessen Frau kam sie nach Innsbruck. Beide kümmerten sich um Flüchtlingsmädchen aus ihrer ehemaligen Heimat und versuchten, ihnen ein normales Leben zu ermöglichen.
So lernte Olga Georg kennen. Dieser schnappte sich das verschüchterte Mädchen und nahm sie mit auf den Hof. Das war jetzt ein Jahr her. Nach einer schwierigen Eingewöhnungszeit konnte sie endlich wieder am Leben teilnehmen und war ein klein wenig glücklich geworden. Sie hatte ein großes Zimmer im ersten Stock des Hofes und durfte sogar zwei Kanarienvögel halten. Sie hatte noch nie in ihrem Leben so freundliche und liebevolle Menschen kennen gelernt. Ihre Sprachkenntnisse mussten noch verbessert werden, doch Georg gab sich alle Mühe mit ihr. Leider war er sehr oft unterwegs, das machte das Mädchen manchmal traurig.
Den Nachbarhof hatten Georgs Tochter Tina und ihr Mann Max vor sechs Jahren gekauft, renoviert und umgebaut. Auch Tina war Medizinerin, jedoch hatte sie sich auf Tiere spezialisiert, sie war Großtier-Ärztin und betreute viele Höfe in der umliegenden Gegend. Inzwischen lebten bei ihnen Hühner, Gänse, Ziegen und drei Pferde. Alle Tiere waren alpine, vom Aussterben bedrohte Rassen, welche Tina und Max züchteten und vermittelten. Zusätzlich war Tina eine der wenigen Maremmen-Abruzzen-Schäferhund Züchterinnen.
Margit, die Mutter von Max ist damals mit auf den Hof gezogen. Sie hatte ebenfalls schon lange den Traum von einem Leben auf dem Dorf. Margit war schon seit über zehn Jahren geschieden. Sie war nicht nur eine große Hilfe für den Hof, sondern auch der perfekte Babysitter. Als Oma blühte sie regelrecht auf. Max war von Beruf Landmaschinen-Techniker, kümmerte sich jedoch um die Landwirtschaft und arbeitete auf dem Hof von Georg mit. Tina und Max hatten inzwischen zwei Kinder, Lara war schon fast fünf Jahre alt und Linus zweieinhalb. Sie alle lebten ein glückliches und zufriedenes Landleben.
Tina hatte sich gegen ein glitzerndes Luxusleben entschieden, welches sie durchaus haben könnte. Denn durch ihre verstorbene Mutter wurden sie und ihr Bruder über Nacht zu Multi-Millionäre.
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In der Nacht zum Samstag musste Uwe operieren. Die aktuellen Auswertungen des MRT zeigten an, dass sie bei Frau Häberle das durch den Sturz gebildete epidurales Hämatom, welches sich zwischen harter Hirnhaut und Schädelknochen lag, operieren mussten. Es übte zu viel Druck auf den Schädel aus und dadurch könnte es zu Hirnschädigungen kommen. Nachdem das Gewebe vor weiterem druckbedingtem Untergang bewahrt wurde, konnte Uwe das Hämatom ausräumen. Dabei hatte er das geronnene Blut abgeschabt und flüssiges Blut abgesaugt. Das Gefäß, aus dem die Blutung stammte, wurde verödet und anschließend die Wunde wieder verschlossen. Mit seinem Team arbeitete er drei Stunden hochkonzentriert. Zur Absicherung legte er eine Drainage in Form eines dünnen Schlauches. Sollte die Blutung nicht ganz gestillt sein, so konnte das Blut hier abfließen.
Monis Haare mussten über eine größere Fläche doch abrasiert werden und nun glich ihre Frisur einem modernen Undercut. Sie würden sicher schnell nachwachsen.
Uwe blieb die ganze Nacht in der Nähe des Intensiv-Zimmers. Irgendwann schlief er auf dem Stuhl neben Monis Bett ein und träumte von den schwarzen Locken. Maria entdeckte ihn am frühen Morgen, als sie ihre Frühschicht antrat und brachte ihm ein Kissen und eine Decke.
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Und wieder war es 9.00 Uhr, als Käthe mit ihrem Hab und Gut draußen an der Straße stand. Sie hatte einen kleinen Disput mit ihrer Tante, da sie unbedingt ihr komplettes Gepäck mit nach Innsbruck nehmen wollte. Sie fühlte sich sowieso schon heimatlos ohne ihre Mutter, da benötigte sie ihre wichtigsten Dinge bei sich. Und vor alle ihren Klarinettenkoffer! Uta konnte das nicht verstehen. Niemand konnte sie verstehen. Es war wie immer.
Johann kam einigermaßen pünktlich an und es ging los. Die Fahrt nach Innsbruck war sehr unruhig. Uta war total genervt, es war Samstag und schönes Wetter, die Autobahnen waren voll. Die Männer mussten ständig pinkeln und Käthe wollte andauernd rauchen. So kamen sie erst mit zwei Stunden Verspätung in der Klinik an.
An der Information wurden sie von Nicole abgeholt. Auch diese kleine Gruppe brachte man in den Raum für Angehörige. Dort war Herberts Familie gerade dabei zusammenzupacken. Sie wollten abreisen, denn man hatte ein Bestattungsinstitut gefunden, welches Herbert noch heute nach Deutschland überführen konnte. Sie wollten nicht länger hierbleiben. Zu Moni hatte man sie nicht gelassen, da sie frisch operiert war und abgeschottet auf der Intensivstation lag.
Im Koma.
Die beiden Familien umarmten sich unter Tränen und fanden kaum Worte. Ute schluchzte laut, „Mein Gott, warum haben die beiden nicht aufgepasst, wie konnte das nur passieren, Herbert... oh nein, Herbert...“, doch niemand gab ihr eine Antwort. Dann brach sie wieder in Tränen aus. Sie zitterte am ganzen Körper.
Der Chefarzt Dr. Uwe Ortner besuchte nachmittags die kleine Gesellschaft. Mit seiner angenehmen und freundlichen Art begrüßte er die Familie und setzte sich zu ihnen. Leise berichtete er von der nächtlichen OP, „Frau Häberle hat wirklich viel mitgemacht, aber alle Operationen sehr gut überstanden. Sie ist eine richtige Kämpferin. Ihr Zustand ist im Moment stabil. Alles weitere wird sich in den nächsten Wochen zeigen. Es wäre wirklich sehr gut, wir könnten sie hier in der Klinik behalten und behandeln.“ Käthe war die Erste, die heulend sagte: „Aber dann ist sie ja so weit weg, was wird dann aus mir? Dann bleib ich auch hier!“ Uwe blickte in die traurigen Gesichter der anderen, sah die Resignation, nahm Käthes Hand. „Von mir aus gerne“.
Es war soweit, Uta rastete endgültig aus. Hysterisch schrie sie in den Raum: „Jetzt ist aber Schluss damit! Käthe, benimm dich endlich wie eine Erwachsene“! Diese rannte schnell auf den Balkon, um wieder zu rauchen. Seelsorger eilten herbei und kümmerten sich um Uta und Käthe, sie bekamen Beruhigungstropfen und wurden auf die Liegen gebracht, während Uwe mit den Herren das Gespräch fortsetzte. Nachdem sich der Chefarzt einen Überblick der familiären Situation gemacht hatte, beschlossen sie, dass Moni tatsächlich hier in Innsbruck am besten versorgt wäre. Zumindest für die nächsten Wochen.
Uwe schaltete sein Pad an und wischte mit den Fingern. Er gab es zuerst an Johann weiter. Auf dem Monitor erschien ein schwarz-weißes Bild, etwas unscharf, aber darauf erkannte man Moni, wie sie in ihrem Krankenbett lag mit all den Kabeln und Schläuchen. Die angeschlossenen Geräte piepsten. Man hörte das Beatmungsgerät. Die Technik von heute war einfach umwerfend modern. Der Chefarzt konnte also jederzeit zu Moni schalten.
„Bitte, versuchen Sie, zur Ruhe zu kommen. Der Pfarrer kommt später vorbei. Ein Seelsorger bleibt bei ihnen. Morgen früh dürfen Sie Frau Häberle besuchen.“ Danach verabschiedete sich der Arzt und ging zurück auf seine Station.