Lina legte die Prospekte zur Seite, verschränkte die Arme im Nacken und schloss die Augen. Flo kam zu ihr an den Tisch, er war heute schlecht gelaunt. „Was ist los, was blätterst du ständig in diesem Scheißdreck? Du bleibst gefälligst hier. Was willst du auch in München? Bist du größenwahnsinnig geworden? Wie deine Mutter? Da hat dir der olle Arzt ganz schöne Flausen in den Kopf gesetzt.“ Verärgert setzte er sich neben Lina. „Sagmol du Drottel, schbinnsch du scho widder?“
Sie schaukelten sich gegenseitig mit Worten auf, wie schon so oft. Plötzlich sprang Lina auf und boxte Flo in die Seite. „Hör jetzt uff! Du... Depp! Abber sofort“! Flo stand ebenfalls auf, sein Stuhl kippte um, flog Lina direkt auf den Fuß. Sie schrie laut, stolperte, verdrehte sich dabei den Knöchel und landete ungeschickt auf dem Fußboden. Hasserfüllt starrte sie ihren Freund an. Durch das laute Gepolter waren die Kleinen erschrocken ins Zimmer gestürmt. Gerade in dem Moment, wo Flo ausholte und Lina zurück boxen wollte, fragte der kleine Gerhard: „Papa Flo, warum tusch du der Mama aua machen?“
Flo starrte die Kinder an. Dann senkte er seinen Arm, schnell verließ er schnaubend den Raum. „Macht doch was ihr wollt, haut ab, alle drei!“
„Hau doch du ab!“
***
Sie lagen gemütlich auf der Couch. Trotz der leichten Kopfschmerzen war Moni Gott froh, dass der Anfall schnell wieder vorüber war. Die ersten Erinnerungsfetzen, auf die sie schon so lange wartete, hatte sie ihrem Uwe nicht mitgeteilt. Sie fand es zu früh, konnte sich sowieso noch keinen Reim darauf machen. Doch dieses Gefühl des drohenden Unheils, das war sehr beängstigend gewesen.
Dann eröffnete sie ihrem Schatz, dass sie gerne in die Heimat fahren würde. „Weißt du, ich bringe Lina mein altes Auto. Sie wird sich sicherlich freuen. Zusätzlich werde ich einen Termin bei meiner Bank vereinbaren. Es gibt ja doch noch einiges zu klären. Gerne möchte ich auch endlich meine Strickfreundinnen besuchen.“
Uwe war für einen kurzen Moment geschockt. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. „Ähm, das kommt jetzt aber plötzlich. Ich kann mir leider in der kommenden Woche nicht frei nehmen.“
„Ja, das weiß ich. Bruno begeitet mich, das reicht doch,“ fröhlich zwinkerte sie ihrem Uwe Schatz zu. „Für wie lange denn?“ Seine Stimme war heißer, er blinzelte aufgeregt. Moni streichelte Uwes Nacken, „Ach, nur ein, zwei Nächte, das ist doch ok, oder? Morgen werde ich alles genau planen.“ Sie küssten sich, doch Uwes Stimmung blieb im Keller. Er hatte große Angst, seinen geliebten Engel wieder zu verlieren. Gleichzeitig war sie natürlich ein freier Mensch.
Die nächsten Tage verbrachte Moni mit planen, packen und einkaufen. Sie fuhr mehrmals nach Montan, um die restlichen Arbeiten sowie die Ankunft der Möbel zu überwachen. Tagsüber war Uwe bis zu zwölf Stunden in der Klinik, doch die gemeinsamen Abende waren gefüllt mit Harmonie, Liebe und Zärtlichkeit. Immer wieder dachte Moni nervös an die bevorstehende Gala am kommenden Wochenende, dann wurde sie innerlich ganz hibbelig. Auf der anderen Seite freute sie sich aber auch. Etwas Besonderes war so ein Event auf jeden Fall. Neben Uwe in der Öffentlichkeit stehen, womöglich ein Foto in der Zeitung. Das war neu, der Gedanke hatte was Aufregendes. Sie mussten bereits drei Stunden vor Beginn dort eintreffen, damit genug Zeit blieb für Garderobe und Maske. Ein klein wenig Hollywood-Feeling stellte sich bei Moni ein, dabei war sie doch überhaupt kein Star.
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Genervt rannte Käthe aus der Klinik. Sie war viel zu spät dran, womöglich verpasste sie ihren Bus. Die Untersuchungen hatten sich verzögert, doch Hannes Marowski, ihr Psychologe, hatte sie überredet, durchzuhalten. Schon bald würde er unter Hypnose herausfinden, ob es in ihrer Kindheit einen schwerwiegenden Vorfall geben hatte. Käthe dachte zurück an das beklemmende Gefühl bei ihrem letzten Aufenthalt in der Heimat. Vielleicht hatte man sie geschlagen? Oder gar eingesperrt? Sie war neugierig aber gleichzeitig unheimlich ängstlich. Kim war heute mit ihrem Bruder und der Mutter beschäftigt, daher fuhr sie zurück nach Montan. Endlich hatte sie wieder mehr Zeit für ihre geliebte Klarinette. Gerade noch erwischte sie den Bus, schon klingelte ihr Telefon. Es war Elsbeth. „Hallo Käthe, hast du morgen Zeit?“ „Ja, ich denke schon. Kommst du zum Käsen?“ „Genau, ich würde gerne mit dir neue Rezepte ausprobieren. Du kannst das einfach so ausgezeichnet gut.!“ „Toll, das freut mich. Also dann bis morgen.“ Käthe schmunzelte, dann fielen ihre Augen zu und sie verschlief die komplette Fahrt.
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Der Abschied fiel Uwe unsagbar schwer. Gleich nach dem Aufwachen zeigten sich erste Tränen bei dem Chefarzt. Moni kannte keinen Mann, der so nahe am Wasser gebaut und trotzdem ein echter Kerl war. Seine Gefühle spielten wieder verrückt. Immer wieder ließ Moni die Autoscheibe herunter, weil ihm noch etwas äußerst Wichtiges einfiel. „Ach, mein Engel, denk daran, wir brauchen wieder ein paar gute Flaschen Wein.“ Moni verdrehte die Augen. Sie stieg ein letztes Mal aus dem Wagen, nahm ihn noch einmal liebevoll in den Arm, flüsterte zärtlich in sein Ohr. „Schatz, ich komme schon morgen Abend wieder zurück. Wir schaffen das weil wir uns lieben!“ Tapfer nickte Uwe, hob die Hand, dann stolzierte er endlich in Richtung Klinik. Moni steuerte den vollbeladenen Kleinwagen aus der Tiefgarage. Bruno hatte sie zu Georg und Olga auf den Hof gebracht, leider war der Maremmen-Abruzzen-Schäferhund viel zu groß für den Kofferraum.
Sie suchte einen geeigneten Sender, entschied sich für Schlager aus den Siebzigern. Ihre Gedanken drehten sich um ihre Töchter und um die kommende Gala. Je näher sie der Heimat entgegenfuhr, umso besser wurde ihre Laune. Lina hatte schon zweimal angerufen, sie konnte es gar nicht erwarten, ihre Mama zu empfangen. Irgendwas war hier im Busch, eine Mutter spürte das genau. Etwa auf der Hälfte der Strecke meldete sich Uwe. „Hey mein Engel, wie läuft es? Hast du Stau? Alles gut bei dir?“ Moni grinste und schüttelte den Kopf. „Ach Uwe Schatz. Was ist denn bloß los mit dir?“ „Ich weiß es doch auch nicht.“ Seine leise Stimme klang brüchig. „Ich melde mich von der nächsten Raststätte, ok? Bis gleich. Kuss!“
Moni kaufte sich einen großen Becher mit Kaffee und setzte sich damit in die hinterste Ecke des Restaurants. Unter der Woche war hier nicht viel los. Sie wählte Uwes Nummer, sofort hatte sie ihn an der Strippe. „Liebling, es tut mir so leid. Ich liebe dich so sehr! Meine Gedanken spielen verrückt!“
„Ok Schatz, und was denkst du? Sprich es aus, bitte!“
„Triffst du dich mit Paul?“ „Quatsch. Auf keinen Fall, nein. Wie kommst du nur auf diese Schnapsidee? Du musst dir überhaupt keine Gedanken machen, ok?“
„Mhmm, ich...“
„Uwe hör zu, ich habe keinerlei Interesse an irgendeinem Mann. Ich habe dich! Noch zusätzlich meine Trauer um Herbert!"
„Entschuldige bitte, mein Engel, ich möchte dich nicht verärgern."
„ Zuerst besuche ich Klara und Adolf. Danach ist mein Banktermin
und anschließend fahr ich direkt zu Lina und den Kindern. Immer wieder denke ich an dich, mein Schatz.“
„Es tut mir so leid, ich weiß nicht, was mit mir los ist. Mein Gott ich bin wahnsinnig eifersüchtig, glaube ich.“ Daraufhin lachten sie beide. „Es ist Liebe.“ Nach vielen Küssen durch die Leitung versprach Moni ihm ein weiteres Telefonat am Abend.
***
Otto lief mit den Hunden die große Runde. Trotz diesem miesen Regenwetter. Mit seinen Gedanken war er weit weg in der Vergangenheit. Immer wieder blieb er stehen und schaute hinauf zum Himmel. Er hatte mit Absicht den Schirm vergessen. Er biss sich auf die Lippen, immer heftiger, bis er schließlich Blut schmeckte. Ja, das hatte er wohl verdient.