„Mami, du musst mir feste die Daumen drücken!“ Käthes Stimme klang fröhlich, aber völlig aufgedreht.
Moni freute sich, dass es ihrer Tochter so gut ging. Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass Käthe so aufblüht. Das war einfach wunderbar.
„Na klar! Aber bei was denn?“, fragte Moni ebenso fröhlich.
Gemütlich setzte sie sich mit dem Telefon auf den Bürostuhl und legte den Karton mit der heute eingetroffenen Wolle beiseite.
„Stell dir vor, es werden Stipendien für die Uni vergeben. Man muss sich nur bewerben und...“ Käthes Stimme überschlug sich fast.
„Stopp!“, unterbrach Moni ihre Tochter lachend.
„Ganz langsam, ich komm ja gar nicht mit. Erzähl es mir bitte in Ruhe.“
Käthe holte tief Luft. „Ok, sorry. Ich bin so aufgeregt. Also, im Mozarteum in Salzburg gibt es verschiedene Studiengänge. Eines davon ist ein Instrumental Studium für alle möglichen Instrumente. Eben auch für Klarinette. Und an meiner Schule werden vier Stipendien vergeben. Dafür muss man sich schriftlich bewerben mit den Schulnoten und so weiter. Gleichzeitig soll man noch einige Stücke aufnehmen und mitschicken. Sollte Interesse bestehen, wird man zum Vorspielen eingeladen. Stell dir vor, meine Lehrerin meinte, ich hätte gute Chancen, da sie mich als sehr talentiert einstuft.“ Jetzt atmete sie laut aus.
„Aber Käthe! Das ist ... das sind ja wunderbare Aussichten. Wow! Ich bin echt stolz auf dich, meine Süße.“ Moni bekam Gänsehaut, bei der Vorstellung, dass der größte Traum ihrer Tochter in Erfüllung gehen könnte.
„Zuerst muss ich natürlich mein Abi machen, aber das Studium beginnt sowieso erst nächsten Herbst. Bis dahin benötige ich bestimmt keine Therapie mehr, denke ich.“
„Das hört sich klasse an. Ich drück dir alle Daumen, die ich habe,“ Moni lachte laut.
„Ein Problem gibt es aber noch.“
„Und welches?“
„In Salzburg gibt es kaum keine freien Wohnungen. Nur solche, die unbezahlbar sind.“
„Na aber Käthe, da fällt mir doch direkt Uwes Hotel ein. Du darfst mit Sicherheit dort wohnen. Frag ihn einfach lieb, oder soll ich das für dich tun?“
„Ach das Hotel. Natürlich! Nein Mami, ich frag ihn selber. Danke für den super Tipp! Kim und ich haben Uwe nächste Woche zum Abendessen eingeladen.“
Nach dem erfreulichen Telefonat packte Moni die restlichen Knäuel aus dem Karton und schob sie zu den anderen. Brandneue, bunte Wolle aus Italien und Deutschland. Sie freute sich jetzt schon darauf, diese zu verstricken, um erste Erfahrungen zu machen. Das Strickcafé war jeden Tag gut besucht. Was für eine Freude, denn mit einem solch erfolgreichen Start hatte niemand gerechnet .
Allerdings war sie derzeit immer nur ein paar Stündchen hier. Ansonsten saß sie bei Klara und Adolf. Dafür sprang ihre Schwester Uta ein.
Zusammen mit Roli hatte diese einen letzten, langen Brief an Otto verfasst. Außer den aktuellen Neuigkeiten hatte sie sich alles von der Seele geschrieben, was sie belastet hatte. Jetzt fühlte sich Monis Schwester frei und war bereit für eine neue Beziehung.
Moni brachte die leeren Kartons ins Lager und verabschiedete sich von den Freundinnen. „Bis morgen, machts gut!“
„Tschüss, bis morgen. wir freuen uns auf dich!"
Mit ihren Gedanken war sie schon beim kommenden Wochenende. Uwe würde zu ihr nach Stuttgart kommen, darauf freute sie sich sehr. Sie vermisste ihn vor allem in den Nächten, wenn sie einsam oder traurig wach lag. Sie konnte es kaum erwarten, ihn zu sehen und zu spüren. Seine liebevollen Zärtlichkeiten lösten bei ihr nie da gewesene, tiefe Gefühle aus.
***
Nur durch Zufall blickte Victor durch das Fenster im Schwesternzimmer, dabei sah er, wie sich die Aufzugstüre öffnete. Heraus trat ein verwahrlost aussehender Mann in einem zerknitterten weißen Kittel. Die Haare hingen ihm strähnig ins Gesicht. Sein Gang war wackelig, die Arme schlenderten wie bei einer Puppe. Victor erkannte ihn und rannte sofort zu ihm. Er schnappte den völlig alkoholisierten Mann bei der Hand und zog ihn mit sich. Vorsichtig schob er Dr. Uwe Ortner ins Arztzimmer und half ihm auf die schmale Pritsche. Victor nahm ein Tuch, hielt es unter den Wasserhahn und legte es ihm triefend aufs Gesicht. „Sag mal, Uwe! Bist du jetzt völlig übergeschnappt?“
Doch Uwe schloss seine Augen und lallte: „Achdu weischtdoch ganix, lass michinruh.“
„Um Gottes willen! Uwe!“ Krampfhaft dachte Victor darüber nach, was er mit seinem Chef anstellen solle. Er kratzte sich am Kopf, dann hörte er ein lautes Schnarchen. Vorsichtig deckte er den betrunkenen Arzt zu und flüsterte: „Ja, schlaf dich erstmal aus. Ist bestimmt im Moment das Beste.“
Grübelnd lief Victor zurück ins Schwesternzimmer. Hier fand gerade die Übergabe statt. Ihm war klar, dass er jetzt nicht in seinen wohlverdienten Feierabend gehen konnte, obwohl er sehr müde war.
„Uwe hat sich krank gemeldet, ich übernehme,“ verkündete er emotionslos. Niemand der anwesenden Pflegekräfte gab daraufhin eine Antwort.
Der Oberarzt telefonierte mit seiner Frau Irina, erklärte ihr kurz und bündig, was geschehen war. Danach überlegte er, ob er Georg anrufen sollte.
***
Fröhlich schlenderte Lina mit ihrem Simon durch den Park. Irene und Gerhard saßen auf ihren Dreirädern und düsten zwischen den Beinen der Erwachsenen umher. Dabei kreischten sie vergnügt. „Ich bin schneller, ätsch!“
„Nein, ich sneller, ich sneller.“
Lina lächelte ihre beiden Zuckerstückchen an. Simon legte den Arm um sie und meinte leise: „So schön ist es mit euch. So schön ist es mit dir!“ Lina zwinkerte verliebt und gab ihrem Schatz einen langen Kuss.
„Du bisch halt verrickt!“ Lina zwickte Simon in die Seite.
„Und du erst, Lina. Du mit deinem witzigen Dialekt. Bitte versprich mir, dass du ihn für immer behältst. Ich liebe ihn genauso sehr wie dich!“
Dann fiel er vor ihr auf die Knie. „Mit euch würde ich gerne mein restliches Leben verbringen. Willst du mich heiraten?“
***
Nach dem dritten Versuch gab Moni es auf, ihren Uwe Schatz zu erreichen. Sein Handy schien ausgeschaltet zu sein. Vielleicht gab es einen Notfall oder er hatte einen Termin, den sie womöglich vergessen hatte. Bestimmt würde er sich zurückmelden, sobald es eben ging.
Das Telefon legte sie zurück in ihre Handtasche, dann fuhr sie mit ihrem Auto davon. Der Nachmittag war anstrengend gewesen. Für Adolf kam zweimal am Tag der Pflegedienst. Die freundlichen Damen kümmerten sich um das Waschen und um das Wechseln der Windeln. Sie verabreichten ihm die Medikamente, die er öfters wieder ausspuckte. Falls er nicht schlief, kommandierte er seine Tochter Klara umher. Für Moni hatte der alte Mann nur böse Worte. Trotzdem übernahm sie die Einkäufe, kochte das Mittagessen und half Klara, so gut ihr das möglich war. Umso mehr freute sich Moni abends auf zuhause, auf ihre Ruhe und auf einen ausgiebigen Spaziergang mit ihrem Bruno.
Kaum war sie in der Wohnung, klingelte endlich ihr Handy.
Erfreut meldete sie sich: „Halli hallo mein Uwe Schatz. Na du, alles gut?“
„Mein Engel, nein...“ Uwe verstummte.
„Huch, bist du krank? Deine Stimme klingt so heiser.“
„Nein, ich...“
Langsam dämmerte es Moni. „Ach, Schatz. Du hast... getrunken?“
Uwe nickte. Dann wurde ihm klar, dass sie ihn ja nicht sehen konnte.
„Es tut mir leid, ich bin ein schwaches Arschloch. Ich kann nicht mehr.“
Moni sog laut die Luft ein. „Aber was genau ist dein Problem?“
„Mein beschissenes Leben, das ist mein Problem. Du bist mein Problem. Ich selber bin das Problem.“ Jetzt hörte Moni ihn weinen.
„Schatz! Wir sehen uns ja bald wieder. Ich liebe dich und freue mich unendlich auf unser Wiedersehen.“
„Mein Engel, deine Worte reichen mir nicht. Jeden Tag nur das Telefon. Ich brauch mehr, ich will dich hier bei mir.“
Moni nahm allen Mut zusammen und sprach mit fester, lauter Stimme:
„ICH bin ganz sicher nicht dein Problem. Der Alkohol ist dein Problem! Bitte, sieh es endlich ein. Ändere etwas an DEINEM Leben. Für unsere Liebe ist die Entfernung egal. Montan, Innsbruck oder Stuttgart, es ist doch nur eine Frage der Zeit, ein paar Wochen. Adolf wird bald sterben.“
Uwe sagte lange Zeit nichts. Moni hörte nur sein leises Schnaufen.
Er saß auf seinem Bürostuhl, klammerte sich mit beiden Händen an sein Telefon. Seine Hände zitterten, ihm war kotzübel. Sein Puls hämmerte an seiner Schläfe, so heftig, dass er befürchtete, sein Kopf würde jeden Moment explodieren.
„Hältst du zu mir?“ Brachte der Chefarzt hervor, dann weinte er hemmungslos und schluchzte dabei so laut, dass es Moni ebenfalls Tränen in die Augen trieb.
„Aber ja! Uwe Schatz, natürlich. Ich halte zu dir, für immer und ewig.“ Dann war die Verbindung unterbrochen.
Inzwischen hatte es angefangen zu nieseln. Moni verzichtete dennoch auf einen Schirm. Bruno kläffte laut, als sie die Leine an sein Halsband anbrachte. „Komm mein Lieber, wir laufen die große Runde.“
Auf ihrem Spaziergang dachte Moni darüber nach, ob sie wirklich ihr kostbares Leben an der Seite eines alkoholkranken Arztes verbringen möchte. Besaß sie die notwendige Stärke?
***
Victor nahm seinem Chef vorsichtig das Telefon aus der Hand und half ihm zurück auf die Liege. Dann legte er ihm einen Zugang, schloss die Infusion an und deckte ihn zu. Er brachte ihm ein kaltes Tuch für seine Stirn.
„Uwe, du schaffst das.“ Beruhigte ihn Victor. Dabei sah er sich die Laborwerte an und schüttelte den Kopf. „Ich kann dir raten, schnellstens damit aufzuhören. Du bist mein Freund, ich möchte dich nicht verlieren. Deine Werte sind schrecklich!“
Uwe nickte, dann biss er sich auf die Lippe. In diesem Moment kam Georg ins Zimmer. Er setzte sich auf den Stuhl neben der Pritsche, nahm die Hand seines Sohnes, drückte sie zärtlich. „Alles wird gut.“
---Ende---