Auf der kurzen Fahrt mit dem Aufzug zur Station K1 wurde es Uwe schlecht und schwindelig. Victor bemerkte seinen Zustand und hakte sich bei ihm unter. Dankbar schloss Uwe seine Augen. „Danke, Victor. Ich habe furchtbare Kopfschmerzen“, entschuldigte er sich bei seinem Oberarzt. Bis jetzt hatte sein Körper noch nie so heftig reagiert wie an diesem Tag. Diese Tatsache war unerträglich für den Chefarzt. „Ich bin so ein Idiot!“
Victor überredete ihn, sich einem Check-up zu unterziehen. Er führte seinen Chef ins Untersuchungszimmer und schloss ihn ans EKG an. Dann brachte er ihm ein Glas Wasser, eine Schmerztablette sowie eine Packung Taschentücher. Ungefragt nahm er ihm Blut ab. Anschließend überprüfte er Blutdruck und Puls. „Chef, bleib einfach noch ein wenig liegen!“
Tatsächlich schlief Uwe für eine Stunde ein. Danach fühlte er sich etwas besser, trank einen Schluck Cola und aß ein Stück Brezel. In seinem Arztzimmer hielt er den Kopf unters kalte Wasser. An sein Spiegelbild gewandt raunte er: „Reiß dich zusammen! Du bist so dumm!“ Auf seinem Schreibtisch lagen bereits die Auswertungen von Victors kleiner Untersuchung. Jedoch ignorierte er das Dokument, er machte sich lieber auf den Weg zu seinen Patienten.
Nachmittags ging Uwe zurück in die Wohnung. Auf Station war alles ruhig. Heute standen keine Operationen oder wichtige Gespräche an. Er legte sich auf die Couch, zappte durch die Programme, bis er wieder eindöste. Durch das Klingeln seines Telefons wurde er wach. Er hörte Monis fröhliche Stimme: „Hey Schatz, ich wollte dir sagen, dass ich losgefahren bin!“
„Mein Engel, wie schön. Ich freue mich sehr auf dich. Gute Fahrt!“
Uwe fühlte sich endlich besser. Deswegen stellte sich ein weiteres Mal unter die eiskalte Dusche. Er spürte seinen Herzschlag an der Schläfe hämmern. Wieder wurde es ihm schwindelig, schnell hielt er sich am Wannenrand fest. „Scheiße! So ein dreckiger Mist!“, schimpfte er mit sich selber.
Er trank Kaffee, zog sich frische Kleidung an und putzte die Zähne. Gemütlich spazierte er durch den Park, atmete bewusst die kalte Luft ein. Auf einer Bank aß er einen Apfel. Dabei schrieb er eine Nachricht an seine Moni:
Ich liebe dich! Du bist alles für mich!
Zurück auf Station absolvierte er die kleine Visite und übergab an Eva. Sie hatte die nächsten Tage Dienst, während Victor die Rufbereitschaft übernahm.
Zuhause zog er bequeme Kleidung an, legte sich wieder auf die Couch und wartete.
Das freudige Kläffen von Bruno weckte ihn auf. Nach einer liebevollen Begrüßung von Moni mit vielen Küssen und Streicheleinheiten, sagte sie unverblümt: „Mein Gott Schatz, wie siehst du denn aus. Bist du krank?“
„Es tut mir so leid, ich glaube, ich habe es gestern übertrieben!“
„Ach...“ Sie nahm Uwe in ihre Arme, wiegte ihn hin und her. Dabei küsste sie immer wieder seine Stirn, strich ihm über die Haare. Sie hörte ihn leise weinen.
„Mein Schatz, alles wird gut. Komm, lass uns ins Bett gehen. Ich bin auch müde.“
Jetzt bekam Uwe Angst. Er befürchtete, sein Liebling erwartete etwas von ihm, was er ihr heute nicht geben konnte. Doch sie schmiegte sich liebevoll an ihn.
„Gute Nacht, erhol dich gut, ich bin bei dir.“ Dankbar fiel er endlich in einen tiefen Schlaf.
Moni grübele lange darüber nach, wie sie es schaffte, so fürsorglich zu sein, obwohl sie alkoholabhängige Menschen eigentlich verachtete. So wie damals ihren eigenen Vater.
In den frühen Morgenstunden erwachte bei ihnen die Sehnsucht. Sie liebten sich vorsichtig und zärtlich, als wäre es das erste Mal.
***
Die Wochen im Oktober verliefen nach dem gleichen Schema. Dienstags fuhr Moni nach Stuttgart und blieb für drei Nächte. Mit ihren Strickfreundinnen traf sie letzte Vorbereitungen für das gemeinsame Projekt. Mit Bruno unternahm sie täglich ausgedehnte Spaziergänge und dachte viel über ihr Leben nach. Sie spürte, wie sie innerlich zur Ruhe kam. Es ging ihr körperlich und seelisch viel besser. Ihre Fröhlichkeit kehrte zurück und sie war stets gut gelaunt. Immer mittwochs besuchte sie Klara und Adolf.
Wenn Moni in ihrer Heimat war, deckte sich Uwe mit Arbeit zu, schob Doppelschichten und fuhr nach Montan. Hier kümmerte er sich um Rondo und spielte mit den Kindern. Doch jedes Mal fiel es ihm sehr schwer, alleine zu sein. Seine Gedanken spielten immer wieder verrückt. Spätestens am dritten Abend griff er deswegen zur Flasche. In diesen Momenten telefonierte er entweder mit seinem Freund Thommy oder mit Hannes. So schaffte er es, dass sich der Alkoholkonsum in Grenzen hielt. Natürlich erkannte er sein Problem, doch wer gab schon zu, süchtig zu sein. Im Internet recherchierte er daher immer öfters, suchte nach Antworten und Lösungen. Er arbeitete sich durch verschiedenen Foren, las dabei viele Erfahrungsberichte. Uwe stellte für sich fest, dass er zu den funktionierenden Alkoholikern gehörte.
Die Wochenenden verbrachten sie immer gemeinsam, entweder in Montan oder Innsbruck. Einmal fuhren sie nach Salzburg zu einem kleinen Kongress, welcher in Uwes Hotel stattfand. Er hielt einen Vortrag über seine erst kürzlich vorgenommene, gelungene Wach-Operation. Viele der Kollegen, die aus verschiedenen Ländern angereist waren, hatten Fragen oder beglückwünschten ihn zu diesem weiteren tollen Erfolg. Die Gespräche wurden in englischer Sprache geführt. Es wurde ein anstrengender, langer aber richtig schöner Abend. Moni blieb die ganze Zeit an Uwes Seite bis weit nach Mitternacht.
Am kommenden Samstag war die Eröffnung und Einweihungsfeier des Strickcafés. Dafür würde sich Uwe ein paar Tage frei nehmen, um seiner Moni zu helfen. Der Chefarzt arbeitete sich durch einen Stapel Unterlagen, dabei fand er einen roten Briefumschlag. Neugierig öffnete er diesen und zog einen Brief von seiner Liebsten hervor.
Mein lieber Uwe Schatz,
für eine gemeinsame Zukunft erwarte ich von dir, dass auch du dich deiner Vergangenheit, deinem Problem stellst. Du bist Chefarzt und Alkoholiker. Ich finde das keine gute Kombination.
Du musst aufhören zu Trinken! Wenn du es nicht alleine schaffst, dann bitte nimm dir Hilfe.
Wenn es sein muss, geh in eine Suchtklinik und mach eine Entziehungskur. Ich werde zu dir halten und mit dir durch diese Zeit gehen, das verspreche ich!
Weil ich liebe dich! Deine Moni
Sofort füllten sich Uwes Augen mit Tränen. Er zerknüllte das Blatt Papier zu einem Ball, steckte es in seine Manteltasche und wählte die Nummer von seinem Vater. Vielleicht hatte er eine gute Idee.
Doch Georgs Reaktion fiel streng aus: „Weißt du Uwe, wenn du das nicht bald in den Griff bekommst, dann wird es tödlich enden! Für dich oder womöglich für einen Patienten. Das muss ich dir nicht sagen, oder?“
Es klang wie eine Drohung.
„Pa, ich habe dich um Hilfe gebeten, um einen Rat von dir. Und nicht, um eine weitere Standpauke zu erhalten.“
„Entschuldige, ja natürlich. Soll ich mich umhören? Was ist dir lieber, eine ambulante Therapie oder eine Klinik?“
Uwes Stimme klang resigniert, „Ich habe keine Ahnung.“ Dann hörte ihn sein Vater weinen.
„Uwe, mein Sohn. Wir schaffen das, alle gemeinsam. Du hast deine Familie, Moni und deine Freunde. Wir sind alle für dich da!“