Da es an diesem Sonntagvormittag regnete, fuhr Georg die Frauen zum Gottesdienst ins Dorf. Er selber würde im Wirtshaus warten, denn mit der Kirche hatte der Seniorchefarzt nichts am Hut.
Olga und Rita saßen in der ersten Reihe. In dem Moment, als Stefan mit seiner Orgel das Eingangslied anstimmte, lächelte sie gütig und ihre Wangen verfärbten sich rot. Rita drückte ihre Hand und blinzelte sie an. „Ich freue mich für euch,“ flüsterte sie. Dankend schloss Olga ihre Augen. Nach der Kirche spazierten sie zu Georg, der heute scheinbar einen ordentlichen Durst hatte. Er wirkte jetzt schon ziemlich beschwipst. Auf dem Tisch stand neben dem Bierglas auch eine Schnapsflasche. „Sag mal! Du kannst ja so nicht mehr fahren!“ Rita war sauer. Der Wirt hob seine Hand, „Ich übernehme das, kein Problem. Setzt euch doch, ich spendiere euch heute das Mittagessen!“ Stefan kam hinzu, lächelte seine Olga schüchtern an. Schnell gaben sie sich einen flüchtigen Kuss. Unter dem Tisch suchten sie nach ihren Händen, dabei himmelten sie sich immer wieder an. Rita bestellte für Georg eine Kanne Kaffee und schüttelte den Kopf. So ein alter Narr. Nach der deftigen Mahlzeit verabschiedeten sich Olga und Stefan. „Wir machen einen Spaziergang,“ dabei zeigte Stefan einen großen Schirm. Beide lächelten schüchtern.
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Käthe gab Uwe eine CD. „Hier, lass die mal laufen.“ Moni tippte energisch auf ihrem Handy, sie suchte nach dem Grund dieses Staus. Aus den modernen Lautsprechern ertönte sanfte Klarinettenmusik. Genauer gesagt: Die Bläserserenade B-DUR von Wolfgang Amadeus Mozart.
Uwe lauschte interessiert der Melodie, „Käthe, das ist ja toll. Deine Lieblingsmusik, oder?“ Käthe nickte und kicherte. Moni drehte den Kopf nach hinten und hob den Zeigefinger. Laut schimpfte sie mit Käthe: „Ohne mich zu fragen! Du bist ja echt doof!“ Uwe kapierte nichts.
„Weiß er es nicht?“
„Nein!“ Monis Stimme klang energisch. Uwe fragte vorsichtig: „Was weiß er denn nicht?“ Nach einer kleinen Pause antwortete Käthe brav: „Es ist Mama, sie hat früher auch Klarinette gespielt, und zwar richtig gut!“ Moni schaute leicht verärgert aus dem Fenster. Uwe dagegen freute sich, „Ich glaube, wir wissen noch lange nicht alles über uns, oder? Das ist ja... mhmm, ich bin echt sprachlos!“
„Ja, gell, meine Mama kann auch gut blasen.“ Dann brachen alle vier in lautes Gelächter aus. In diesem Moment setzte sich die Blechlawine in Bewegung. Die Fahrt wurde fortgesetzt.
Uwes Handy klingelte, doch es war nicht mit dem Wagen gekoppelt. Er bat Moni, das Gespräch entgegenzunehmen. „Es ist Thommy!“ Sie drückte auf den Lautsprecher, schon ertönte seine Stimme. „Hey mein alter Freund, alles klar?“ „Ja wir sind auf dem Rückweg. Uwe fährt, er kann jetzt schlecht telefonieren.“ „Kein Problem, er soll sich heute Abend bei mir melden. Moni, wir würden euch und auch Käthe mit ihrer Freundin gerne nächstes Wochenende nach Toblach einladen. Habt ihr alle Zeit? Und bitte richte deiner Tochter einen lieben Gruß von uns aus. Wir haben euch alle sehr lieb!“
Uwe hatte seinen besten Freund in das Thema eingeweiht, natürlich nur mit Käthes Zustimmung. Für Moni war Thommy ihr Lebensretter, denn schließlich hatte er sie damals mit dem Rettungshubschrauber blitzschnell nach Innsbruck geflogen. Auch wenn für Herbert jede Hilfe zu spät kam. Warum eigentlich? Darauf hatte Moni noch immer keine Antwort. Sie kam ins Grübeln, war sehr froh darüber, dass sie kaum noch Kopfschmerzen hatte. Selbst die Alpträume wurden immer seltener. Dennoch spürte sie tief in ihrem Innern diese Traurigkeit und eine Art Sehnsucht, immer dann wenn sie das Wort Toblach hörte.
Mit schönen Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit Herbert, verbrachte sie die restliche Heimfahrt mit dem Erstellen eines digitalen Fotoalbums. Die schönsten Fotos, auf denen sie zu zweit zu sehen waren, verschob sie in diesen Ordner und beschriftete ihn: Mein Schatz.
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Uta wurde von Johanns Frau liebevoll begrüßt. „Uta, meine Liebe, du armes Ding. Es sind ja fürchterliche Dinge ans Tageslicht gekommen. Unfassbar! Komm rein, ich habe Tee, Kaffee und einen Kräuterlikör bereit gestellt.“ Uta gab keine Antwort, sondern fing direkt an zu weinen. Die Hunde blieben ängstlich vor der Eingangstüre sitzen. „Ich habe oben das Gästezimmer für euch hergerichtet. Es hat einen Zugang zum Balkon, falls deine Lieblinge mal müssen.“ Uta nickte und schob ihre Hunde ins Haus. Nie im Leben hätte sie gedacht, darüber glücklich zu sein, bei Johann und seiner Frau zu wohnen. Sie hatten eigentlich kein gutes Verhältnis. Aber jetzt war eben alles anders. Wirklich alles.
Johann versprach seiner Schwester nach einer geeigneten Wohnung zu schauen und ihr bei der Jobsuche zu helfen. „Ein paar Stunden arbeiten, das würde dir gut tun, ja!“, stellte er ernüchternd fest.
„Du wirst sehen, hier in Köln wirst du schnell neue Freunde kennenlernen und dich bald wohl fühlen. Warte es nur ab.“
Johann begleitete sie auf einer kleinen Gassi-Runde mit den Fellnasen. Er zeigte ihr einige Sehenswürdigkeiten und erklärte wichtige Punkte, damit sie sich auch alleine zurechtfinden würde. Bis auf ein paar Tränen, die leise aus ihren traurigen Augen rollten, zeigte Uta keinerlei Reaktionen.
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Käthe wünschte sich abends einen Spaziergang nur mit ihrer Mama alleine. Sie liefen zusammen mit den Hunden in den Wald. Bruno und Aaron tobten umher, Moni nahm ihre Tochter in den Arm. Da fing Käthe zu weinen an. Den kompletten Tag war sie so tapfer gewesen, doch jetzt ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf. „Ja, meine Süße, lass es raus.“
Nach diesem anstrengenden Wochenende kuschelte sich Moni dankbar an ihren Uwe. Sie war fix und fertig. Er saß mit seinem Klinik-Notebook im Bett. „Mein Engel, ich muss noch eine Anfrage beantworten, dann bin ich ganz bei dir.“ Doch als er sich zu ihr umdrehte, schlief sie bereits. Liebevoll streichelte er ihr zwei Haarsträhnen aus dem Gesicht, dabei küsste er sie zärtlich auf die Stirn. „Ich liebe dich, mein Ein und Alles“, behutsam deckte er sich und seinen Engel zu.
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„Nein! Nein! Nein!“ Otto stand im Wohnzimmer, die Arme verschränkt hinter seinem Kopf. Nach so einer langen Zeit kam sein dunkles Geheimnis doch noch an die Oberfläche. Es war unfassbar. Wie gerne würde er seine Sünden rückgängig machen. Schon immer hatte es ihn gereizt, kleine Mädchen nackt zu sehen. Was er aber mit seinen Nichten angestellt hatte, das war... einfach passiert. Er bekam kaum Luft. Das war wirklich äußerst dumm, total unnötig. Wie gerne würde er seine Taten rückgängig machen. Jetzt hatte er alles verloren. Zum ersten Mal in seinem leben hatte er Selbstmordgedanken.