Schnell überflog Moni die ersten Zeilen... Noch nicht geklärt, ob es sich hier um eine vorsätzliche Tat oder nur um einen äußerst spektakulären Unfall handelt...
Wie bitte? Sie las den Text noch einmal, inzwischen zitterten nicht nur ihre Hände.
...durch welche genauen Umstände konnte es dazu kommen, dass die in rot gekleidete weibliche Person, die laut Zeugenberichte zuerst abgerutscht war, auf der zu Tode gekommenen, in blau gekleideten, männlichen Person lag ...
Was???
Das Atmen fiel ihr schwer, Tränen liefen ihr übers Gesicht. Dann spürte sie, wie sich ein dicker, fetter Kloß in ihrem Bauch festsetzte. Schweiß stand ihr auf der Stirn, sie suchte Halt und kam leicht ins Wanken. Sie nahm Victors Stuhl, setzte sich langsam darauf. Hektisch blätterte sie weiter.
... vermuten, die tödlichen Verletzungen stammen von seinen eigenen Wanderstöcken, welche sich durch den Aufprall der weiblichen Person in seinen Körper bohrten und seine Lunge zerfetzte ...
Um Gottes Willem. Das... Das durfte wohl nicht wahr sein! Warum hatte ihr niemand...
...eine Vernehmung ist noch nicht möglich, da sich die weibliche Person im Koma befindet und selber lebensbedrohlich verletzt wurde...
Moni spürte, wie ihr Herzschlag für einen ewig langen Moment aussetzte, um dann anschließend hämmernd und wild klopfend zurückzukehren und ihr beinahe die Schädeldecke zertrümmerte. Ihr Mund war vollkommen ausgetrocknet. Sie zitterte inzwischen am ganzen Körper. In dem Moment als Victor zurückkam, stieß sie einen fürchterlichen Schrei aus, sank in sich zusammen und rutschte dabei vom Stuhl. Da lag sie auf dem Fußboden, weinte und schluchzte.
Bilder und Erinnerungsfetzen lösten ein wahres Feuerwerk in ihrem Gehirn aus. Der Traum!
Blut und Tränen, ein lauter Schrei, viele kleine Steine rieselten herab.
Victor kniete sich zu ihr nieder, nahm sie tröstend in seine Arme. Sie schlug wild um sich, „Hau ab! Fass mich nicht an! Lass mich in Ruhe!“ Schwester Heidi stand wie erstarrt im Türrahmen. Schnell versuchte sie die Situation zu analysieren und drückte beherzt den Notfallknopf.
Dr. Uwe Ortner beendete zufrieden seine Arbeit. Die kleine Operation war wie erwartet sehr gut verlaufen. Die Assistenzärzte kümmerten sich ab jetzt um den Patienten. Nach dem Versorgen der Wunde brachte man ihn auf die Intensivstation. Uwe ordnete eine Überwachung aller Vitalwerte von mindestens zwei Tage an. Er stand am Waschbecken, ließ sich von seinem Schutzanzug befreien und wusch sich ausgiebig Hände und Arme. Aus den Augenwinkeln sah er im Flur die Notfall-Lampe blinken. Er atmete tief durch und eilte schnellen Schrittes davon.
Zwei Schwestern liefen hektisch in den hinteren Trakt der Station, Richtung Ärztezimmer. Skeptisch rannte er ihnen hinterher.
Schockiert starrte er mit weit aufgerissenen Augen auf seine schluchzende, auf dem Boden kauernde Moni. Ungläubig schüttelte er den Kopf, schaute zu Victor, der ratlos neben ihr kniete. „Was um alles in der Welt...“
Victor deutete auf die herumliegenden Blätter der Akte von Herbert Häberle. „Ich gehe davon aus, dass sie den Bericht der Polizei gelesen hat.“ Seine Stimme brach. Zärtlich nahm Uwe seine Moni in den Arm, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Doch sie reagierte sehr ungehalten. „Weg! Haut ab! Geht alle weg!“ Uwe schickte Victor und die Schwester nach draußen und bemühte sich weiter um seinen Engel. „Komm doch her, mein Liebling, mein Herzblatt. Ich bin bei dir!“ In seiner sanften Stimme lag so viel Liebe. Doch sie war außer sich vor Wut, schrie laut und hemmungslos: „Du Lügner, du verdammter Lügner! ICH habe ihn umgebracht! ICH war es und du hast es die ganze Zeit gewusst!“
„Was? Aber nein! Wie kommst du denn darauf?“
Sie fuchtelte mit den Armen und scheuchte ihn weg. „Ich hasse dich!“
„Aber“... betrübt schloss er seine Augen.
Dann verlor Moni die Beherrschung, trommelte wild auf ihn ein und schlug um sich. Uwe wehrte die Schläge ab, trotzdem erwischte sie ihn mit ihrem Ring ziemlich heftig am Auge, welches sofort schrecklich schmerzte und tränte. „Aua, Scheiße!“
Am Waschbecken ließ er kaltes Wasser über sein Gesicht laufen. „Scheiße! Scheiße! Scheiße!“ Fassungslos blickte er in den Spiegel, seine Narbe glänzte dunkelrot, das Gesicht aschfahl, noch dazu schwoll sein Auge an. Es tat höllisch weh. Jetzt war er selbst den Tränen nahe.
***
Unter den besorgten Blicken von Rita und Olga legte Georg das Telefon zur Seite. „Das war Victor, es ist etwas passiert. Es geht um Moni, ich muss schnell in die Klinik.“ Er gab ihr einen flüchtigen Kuss, nahm den Autoschlüssel und eilte hinaus. „Ich melde mich von unterwegs.“ Rita nickte traurig, sie hatte es so verstanden, dass Moni etwas zugestoßen sei. In der Küche sagte sie zu Olga: „Ohje, noch mehr Kummer kommt auf uns zu.“ Das Mädchen fing sofort an zu weinen, obwohl sie noch gar nicht wusste, was geschehen war. Rita verspürte wieder dieses Ziehen in der Magengegend.
Auf der Fahrt informierte der Senior-Chefarzt zuerst Käthe. Sie versprach mit Kim später in die Klinik zu kommen. Danach gab er Uta und Lina Bescheid, auch sie wollten so schnell wie möglich anreisen. Ganz zum Schluss erklärte er seiner Rita in aller Ruhe, was Victor ihm erzählt hatte.
Die Sache war natürlich schlimm für Moni. Er ging davon aus, dass sie durch das Schlüsselerlebnis, den Unfallbericht zu lesen, einen Flashback erlitten hatte. Oder womöglich eine Intrusion. Er hatte schon lange damit gerechnet.
Nun sorgte er sich auch um seinen labilen Sohn.
***
Die Erinnerungen trafen Sie wie Peitschenhiebe. Viele kleine Puzzleteile setzten sich zusammen. Plötzlich war alles klar und zum Greifen nahe. Die Berge, die Wanderung, der enge Pfad an der steilen Wand. Die Angst saß ihr im Nacken, Gänsehaut zeigte sich an ihrem Körper. Doch dann fühlte sie eine warme Liebe, die Sehnsucht nach Herbert, ihrem geliebten Mann. Ihre Lippen bebten, sie war außerstande auch nur einen Ton zu sagen.
Ihre Knie wurden weich. Sie öffnete den Mund zum Schreien, doch diese furchtbare Angst schnürte ihr die Kehle zu. In ihren Schläfen klopfte laut und polternd ihr Herzschlag. Mit beiden Händen hielt sie sich den Kopf, in der Hoffnung, er würde unter diesem starken Druck nicht platzen. Atmen, tief durchatmen.
Hilfe! Sie brauchte dringend Hilfe. Sterne tanzten vor ihren Augen, dann
wurde es dunkel und still.
***
Georg nahm seinen Sohn in seine Arme. „Mein Junge, ich bleibe hier und übernehme die Schicht. Bitte, lass dein Auge untersuchen, das sieht nicht gut aus!“ Dieser nickte nur. Uwe schien um Jahre gealtert, war fix und fertig. Wie ein Trottel stand er da, mit seinem geschwollenen, schmerzenden Auge.
Victor gab sich die Schuld an der Situation. Georg schickte den Oberarzt nach Hause. „Hör zu, mach dir keine Sorgen, du kannst nichts dafür. Geh du zu deiner Frau, ruhe dich aus, wir brauchen dich morgen wieder. Du bist ein guter Mensch und ein hervorragender Chirurg. Ich bleibe hier in der Klinik und bei Uwe . Ich kümmere mich um alles, ja?“