Mit einem dicken Kopf, total fertig, schleppte sich Uwe am nächsten Morgen ins Badezimmer. Hier herrschte noch das Chaos vom Vorabend.
„Scheiße, Scheiße, Scheiße!“, dröhnte es durch die Wohnung. Er war viel zu spät dran. Schnell gab er auf Station Bescheid. Die diensthabende Ärztin Eva versicherte ihm, dass es kein Problem wäre.
Mit schlechtem Gewissen räumte er auf, brachte die leeren Flaschen raus, duschte eiskalt, reinigte das Badezimmer und schaltete die Waschmaschine an. Er bereitete sich eine Kanne Kaffee zu und setzte sich damit auf die Terrasse. Es hatte zwar aufgehört zu regnen, doch der Himmel hing noch voller dunkler Wolken.
Thommy meldete sich zurück, doch Uwe ging nicht ans Telefon. Nicht jetzt. Nach der dritten Tasse Kaffee wurde es ihm so übel, dass er schnell ins Badezimmer rannte, um sich zu übergeben.
Mit zitternden Händen wählte er die Nummer von Dr. Marowski.
„Guten Morgen Hannes. Hast du heute Zeit für mich?“
„Uwe!“ Hannes Stimme klang besorgt. „Soll ich vorbei kommen? Wo bist du?“
***
Uta stand auf und kochte sich einen Tee. Dabei blieb sie so leise wie möglich, damit sie ihrer Schwester ganz genau zuhören konnte.
„Alkoholiker? Moni, bist du dir sicher? Gibt es dafür einen Grund?“
„Weißt du Uta, ich glaube schon. Aber es ist eine unglaublich traurige Geschichte, die schon länger zurückliegt.“
Uta flüsterte leise: „Ach herrje, das tut mir aber leid.“
„Uwes Mutter ist auch an Krebs gestorben, das wusstest du schon, oder?“
„Ja, das hattest du einmal erwähnt.“
„Das war für Uwe der erste Grund in seinem Leben, sich sinnlos zu betrinken. Er meinte, damit hätte alles angefangen.“
Moni lief in die Küche, holte sich Kaffee und Kekse. Dann kuschelte sie sich wieder ins Bett. Bruno lag neben ihr auf dem Boden und beobachtete jeden Schritt von ihr.
„Es war Georgs Idee, sich deswegen den Ärzten ohne Grenzen anzuschließen, und nach Afrika zu gehen. Er selber war ebenfalls noch voller Trauer um seine Frau. Zu dem österreichischen Team gehörte auch Susan. Ihr reicher Onkel überredete sie dazu, ein freiwilliges soziales Jahr zu absolvieren. Als sie Uwe zum ersten Mal sah, verliebte sie sich scheinbar sofort in ihn.
Allerdings hatte Uwe damals nur Augen für eine ganz bestimmte Frau. Es gab da eine afrikanische Schönheit, in die er verliebt war. Leider konnte ich mir den exotischen Namen nicht merken. Sie arbeitete unter der Woche in Uwes Team als Köchin und flirtete heftig mit ihm. Er war Anfang dreißig, sah umwerfend aus und hatte kaum Erfahrung mit Frauen. Schnell wickelte die junge, schöne Afrikanerin den Arzt mit den Himmelaugen um ihre Finger. Das hatte sie wohl immer wieder betont. Diese blauen Augen. An einem seiner freien Wochenenden fuhren sie zusammen in ihr Heimatdorf, welches ziemlich abgelegen war. Uwe nahm seinen Arztkoffer und eine Tasche mit Medikamenten mit, vergaß aber in der Hektik die schützende Moskitonetze.“
Uta seufzte: „Oh mein Gott Moni, das ist jetzt schon erschütternd.“
„Ja also, es passierte wohl an diesem Wochenende, als sich beide mit Malaria angesteckt hatten. Es handelte sich um eine ganz bestimmte Variante, und zwar heißt sie Malaria quartana oder so ähnlich. Diese Form ist wohl nicht so tödlich. Durch die lange Inkubationszeit auch nicht so schnell zu erkennen. Uta, ich weiß nicht, ob ich alles genau verstanden habe.“
„Ist ja auch egal, erzähl weiter, bitte.“
„Erst nach ca. fünf Wochen wurde Uwe krank. Er bekam seinen ersten Fieberschub und schlimmen Durchfall. Sein Vater wusste sofort, was er sich da eingefangen hatte. Georg stellte ihm die junge Susan zur Seite. Mit ihrer Fürsorge, den besten Medikamenten und Uwes guter körperlicher Kondition hatte er die Krankheit nach wenigen Wochen gut überstanden. Was er nicht wusste, seine Freundin hatte es ebenfalls schwer erwischt, lag aber in einem Zelt in ihrem Heimatdorf. Bis es zu Uwe vorgedrungen war, waren weitere Wochen vergangen.
Uwe reiste sofort nach seiner Genesung in das Dorf. Für sie kam jedoch jede Hilfe zu spät, sie war bereits gestorben.
„Das ist ja furchtbar“, flüsterte Uta.
„Aber stell dir vor, sie war schwanger, im dritten Monat. Das Baby überlebte nicht.“
„Um Gottes willen. Nein!“
„So schlimm, gell. Zurück in Österreich hatte er sich einem kompletten Check-up unterzogen. Hier erzählte man ihm von etwaigen Spätfolgen. Praktisch erst nach einem Jahr erfuhr er von seiner Unfruchtbarkeit durch die Malaria Erkrankung.“
In der Leitung blieb es lange still. Die Frauen weinten leise.
Uta fragte vorsichtig: „Ab wann war er mit Susan zusammen?“
„Sie blieben ein weiteres Jahr in Afrika. Dort arbeitete er wie ein Verrückter. Fast jeden Abend schüttete er sich zu, um zu vergessen. Susan wich ihm dennoch nicht mehr von der Seite. Uwe konnte mir nicht genau erklären, wann sie ein Paar wurden. Die Beziehung war wohl lange Zeit eher freundschaftlich. Uwe meinte, die Liebe kam auf leisen Sohlen. Inzwischen denkt er, dass er Susan nie wirklich geliebt hatte.
Georg flog als Erster zurück nach Innsbruck und gründete die Privatklinik. Den Rest der Geschichte kennst du ja ungefähr.“
„Oh je, das ist echt hart.“
Moni gähnte, „Uta, ich bin jetzt total müde. Wir sehen uns morgen früh, ok?“
„Gute Nacht, schlaf gut!“
***
„Machen wirs kurz, was muss ich tun? Es kann so nicht weitergehen.“
Hannes saß mit ernstem Gesichtsausdruck auf dem Stuhl und betrachtete seinen Freund Dr. Uwe Ortner.
„Deine Moni hat recht. Du musst damit aufhören!“
Uwe nickte, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
„Ja, das weiß ich ja bereits. Also was muss ich tun?“
„Du musst damit aufhören zu trinken! Finger weg vom Alkohol. Keinen Tropfen! Wenn du das, mhm, sagen wir fünf Tage, hintereinander geschafft hast, kommst wieder zu mir. Erst dann kann ich dir helfen.“
Resigniert ließ Uwe den Kopf hängen. Er kratzte sich am Kinn, dann stand er auf. „Alles klar. Danke für nichts.“
Uwe eilte aufgelöst nach draußen und lief durch den Park. Hier wählte er Monis Nummer, sie meldete sich sofort.
„Guten Morgen, Schatz. Wie geht es dir heute?“ Ihre Stimme klang fröhlich.
„Mein Engel, bitte sei mir nicht böse. Es tut mir so leid.“
„Ich bin dir nicht böse.“
Kaum hörbar fragte er: „Wann kommst du wieder?“ Er hatte große Angst vor ihrer Antwort.
„Um vierzehn Uhr habe ich noch einen Termin mit einem Lieferanten. Danach fahre ich los. Ich habe das Gefühl, du brauchst mich?“
Ihm fiel ein großer Stein vom Herzen, Gott sei Dank, dachte er.
„Ja, ich brauch dich. Wie schön, ich freue mich so. Kommst du hierher nach Innsbruck?“
„Gerne, mein Schatz. Bis später, jetzt muss ich wieder auflegen, Uta kommt zum Frühstück!“
Uwe lief langsam und nachdenklich in die Klinik. Am Kiosk kaufte er sich eine Cola und eine Brezel. Auf dem Weg zum Aufzug traf er auf Victor, der ihn sofort in ein Gespräch verwickelte. Zusammen mit ihm würde er gleich die große Visite abhalten. Der Klinikalltag würde ihn wieder beruhigen und ablenken. Ganz nebenbei erwähnte Victor: „Mensch Chef, zu lange gefeiert? Du siehst beschissen aus.“
Uwe gab seinem Oberarzt einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken. „Danke, mein Lieber.“