Uwe kam erst gegen 19 Uhr zurück zu seiner kleinen Familie. Nach der Visite gab es einen harmlosen Notfall zu versorgen. Anschließend sah er sich gemeinsam mit Eva und dem Assistenzarzt die Auswertungen von Ritas Untersuchungen an. Das Team aus Linz hatte ihm freundlicherweise alle Ergebnisse per E-Mail zukommen lassen. Das Karzinom war gut zu erkennen.
Leider gab es keine genaue Abgrenzung zur Darmwand, so dass sich ein Abtragen oder Abschaben schwierig gestalten würde. Das Geschwulst lag in direkter Nachbarschaft zum Bauchspeicheldrüsen-Kopf. Diese Tatsache war wirklich nicht gut. Sollte das Karzinom bösartig sein, wie vermutete wurde, kam auch für Uwes Ärzteteam nur eine Whipple Operation in Frage. Eva hatte die Internetseite des Inselspitals in Bern geöffnet und las laut vor: Nach der Entfernung des Kopfs der Bauchspeicheldrüse, Teile der Gallenwege, der Gallenblase und des Zwölffingerdarms werden die Bauchspeicheldrüse, der Gallenweg und der Teil des Magens mit einer Dünndarmschlinge verbunden.
Wie gerne hätte sich Uwe nach dieser niederschmetternden Erkenntnis einen weiteren Schluck Whiskey genehmigt, doch er hatte Monis Warnung im Ohr. Leise verabschiedete er sich von seinem Team. „Gute Nacht, ich bedanke mich recht herzlich für die Zusammenarbeit. Morgen komme ich erst gegen Mittag, ich muss mich dringend ausschlafen. Im Notfall bin ich natürlich telefonisch zu erreichen.“ Er übergab das Tablet mit allen wichtigen und aktuellen Informationen an Eva.
Bruno begrüßte auch ihn überschwänglich und bellte laut. Moni lag schlafend auf der Couch. Uwe sah sich verwundert um. Überall herrschte ein wahres Durcheinander. Auf dem Boden lagen Teile von Brunos Knochen und andere Essensreste, daneben kullerte die umgekippte Wasserschüssel. Eine leere Apfelsaftflasche, schmutzige Kaffeetassen und benutzte Löffel tummelten sich auf dem kleinen Beistelltisch. Bunte Wollknäuel lugten zwischen Strickanleitungen und Taschentüchern hervor. Neben Monis Kopf lagen Fernbedienung und Handy auf dem Kissen.
Er ging ins Badezimmer, um ein Handtuch zu holen. Er hielt inne und betrachtete fassungslos das Chaos. Moni hatte einfach alles liegen und stehen lassen. Sie hatte wohl vergessen, aufzuräumen und sauberzumachen. Sogar das Wasser stand noch in der Wanne. Handtücher und Kleidungsstücke lagen verstreut auf dem Boden. Er räumte auf, putzte und befüllte die Waschmaschine. Der liebe Hund saß unter dem Türrahmen und beobachtete jede Handbewegung. Kopfschüttelnd lief Uwe in die Küche. Er hatte Kohldampf. „Mensch Bruno, hast du nicht auf sie aufgepasst?“ Er winselte leise. Neben dem Kühlschrank stand Käthes Nudelauflauf ohne Abdeckung. Zwei benutzte Löffel steckten in ihm, es sah äußerst unappetitlich aus. Enttäuscht verzog er den Mund.
Dabei hatte er gehofft, Moni hätte ein kleines, romantisches Abendessen vorbereitet mit Kerzen und einem guten Tropfen. Was für ein verrückter verliebter Trottel er doch war. Noch dazu sehr hungrig und hundemüde.
Tinas Tasche mit den Leckereien vom Hof lehnte an der Wand neben dem Mülleimer. Er räumte sie aus, versorgte den Inhalt, belegte ein Brot mit frischem Ziegenkäse und lief damit zurück ins Wohnzimmer. Moni blinzelte ihm verschlafen zu. „Oh, hallo! Du bist schon da? Ich...ich glaub ich hab verpennt.“ Sie versuchte ein Lächeln.
„Ja mein Engel, sieht ganz danach aus.“ Er gab ihr einen zärtlichen Kuss, setzte sich zu ihr auf die Couch und hob die Augenbrauen. „Uwe Schatz, ist doch egal, ich mach das morgen, ja?“ Sie stand auf und entnahm dem Holzregal eine Flasche Rotwein aus ihrer Heimat. „Hast du Lust auf einen guten Schluck?“ Uwe zwinkerte, „Wenn ich darf gerne, aber vorher möchte ich duschen.“ Sie nahmen sich liebevoll in den Arm und küssten sich lange.
Moni überlegte in der Zwischenzeit krampfhaft wie sie es ihrem Uwe am besten sagen sollte. Sie ging in den Garten, erfreute sich an der Blumenpracht, setzte sich ins Gras und erinnerte sich an das geführte Telefonat mit Andy und Conny. Es dämmerte bereits, aber die Luft war noch sehr warm. Sie atmete tief durch, spürte Bruno an ihrer Seite. Mit seinem Ball im Maul forderte er sie zum Spielen auf. „Na komm!“
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Georg blieb bis spät in der Nacht bei Rita im Zimmer. Immer wieder redete er beruhigend auf sie ein und hielt liebevoll ihre Hand. „Hör zu, meine Liebe. Nach der Operation bleibst du natürlich noch einige Tage hier. Sobald es dir aber besser geht verlegen wir dich nach Innsbruck. Dann kommt nicht auch noch das Heimweh dazu, ja?“ Sie nickte tapfer und müde. Die Nachtschwester hatte ihr Beruhigungstropfen verabreicht. In ihrem rechten Arm steckte bereits der Zugang, die Infusionsflasche hing an der Vorrichtung und tröpfelte langsam. „Du bist hier gut aufgehoben, hab keine Angst! Ich bleibe die ganze Nacht bei dir.“ Er küsste seine Rita zärtlich. „Georg, danke. Ich liebe dich sehr, schon viele, viele Jahre, weißt du das.“ Der alte Mann nickte. „Ja ich weiß das. Und ich liebe dich auch!“ Sie weinte sich in den Schlaf. Georg versuchte, auf der Liege neben dem Bett ebenfalls zur Ruhe zu kommen. Er schrieb eine Nachricht an seinen Sohn: Die Operation ist auf 08:00 Uhr morgen angesetzt. Der Tumor ist leider bösartig, wir können nur hoffen, dass es noch nicht zu spät ist. Rita hat zu lange gewartet, ich mache mir Vorwürfe, denn ich habe es nicht bemerkt.
P.S. Uwe, ich bin sehr stolz darauf, so einen wunderbaren Sohn wie dich zu haben!
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Gemütlich saßen sie bei Kerzenlicht auf der Terrasse. Allerdings fühlte sich Moni immer noch müde und traurig. Dennoch hatte sie für Uwe Obst klein geschnitten und den restlichen Ziegenkäse und ein Stück Kuchen auf einem Teller bereitgestellt. Dankbar griff er zu. In seinem Trainingsanzug sah er so gewöhnlich aus, sie liebte dieses Outfit. Beide gähnten herzhaft und lachten darüber. „Na dann, Prost!“
„Ja mein Engel, lass es dir schmecken. Der edle Tropfen ist bestimmt aus deiner Heimat, oder?“ „Apropos Heimat...“ Sie verstummte. Ihr Blick fixierte einen weit entfernten Stern am Himmel. Sie wusste nicht so recht, wie sie den Satz beginnen sollte. Uwe lehnte sich zurück, hielt das Glas fest in der Hand, schloss die Augen und nahm einen großen Schluck Wein.
Es war als könne er Gedanken lesen, „Liebling, heute ist so ein Tag, an dem ich einfach nur fertig bin. Erschöpft, kraftlos und genervt. Können wir morgen früh reden?“
Schweigend tranken sie ihr Glas leer, räumten den Tisch ab, kuschelten sich ins Bett und schliefen sofort ein.
Uwe wachte alle paar Stunden auf, vergewisserte sich, dass Moni bei ihm lag, nahm sie fest in seinen Arm und schlummerte selig weiter. In dieser Nacht blieben die Alpträume bei Moni aus.