Lina spazierte mit Simon zum nahe gelegenen Spielplatz. Die Kinder liebten es, hier umherzuspringen und zu spielen. Durch den alten Baumbestand fand man überall schattige Plätze. Sie hatten eine große Decke ausgebreitet und es sich gemütlich gemacht. Aus einem altmodischen Transistorradio dudelte Popmusik, daneben wartete Linas Gitarre auf ihren Einsatz. Im Rucksack hatten sie Leckereien für ein Picknick dabei. Die letzte Woche der Sommerferien war nun angebrochen. Es war Simons freier Tag und er hatte versprochen, auf Irene und Gerhard aufzupassen. Lina arbeitete in dieser kostbaren kinderfreien Zeit ihre Liste ab. Mama anrufen, war der wichtigste Punkt. Doch ihr Handy war immer noch ausgeschaltet, schon seit gestern Abend. So wählte sie die Nummer von Käthe, aber die war total im Stress. „Weißt du, Rita wird heute operiert, Georg ist bei ihr in Linz. Wir halten hier auf dem Hof die Stellung!“ „Ups, des hab i ganz vergesse, sorry.“ Lange überlegte sie, ob sie Uwe anrufen sollte. Sie kannte ihn nicht so gut, daher wusste sie nicht, wie er reagieren würde. Ein Versuch war es wert. Doch ihn erreichte sie leider auch nicht.
Nachdenklich beobachtete Lina ihren neuen Freund, wie liebevoll er mit den Kindern umging. Sie hatte es echt gut erwischt, hier in der Einrichtung im Mirabellenhof. Was für ein Glück, dass sie hier sein durfte. Dank Georg Ortner, dann fiel ihr der Grund ein, wie alles zustande gekommen war. Sie fing an zu weinen, als Simon erschrocken nachfragte, antwortete sie nur: „Ach es isch nix, i bin oifach gligglich!“
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Nach sieben langen Stunden erhielt Georg die Nachricht, dass seine Rita nun in den Aufwachraum auf der Intensivstation geschoben wurde. Ein freundlicher Arzt erklärte ihm, dass die aufwändige Operation gut verlaufen sei. So wie es aussah, hatte der Tumor nicht in die umliegenden Organe gestreut. „Ihr Zustand ist stabil, sie hat eine gute Prognose, auch wenn die Genesung langwierig sein wird.“ Er hielt inne, denn er wusste, wer ihm gegenüberstand. Ehrlich redete er weiter. „Neben den üblichen Risiken einer Operation wie Blutungen, Verletzungen anderer Organe und Infektionen kommen noch die spezielle, nach einer Whipple Operation möglichen Komplikationen dazu.“ „Und was sind dies?“ Interessiert und höchst konzentriert lauschte Georg seinen Worten. „Das Schlimmste wär ein Darmverschluss, ein Organversagen oder eine Fistelbildung bis hin zu einem Nahtbruch. Daher ist Ruhe und Schonung sehr sehr wichtig!“ Georg nickte betroffen. „Danke, auf was müssen wir achten?“ Der freundliche Gastroenterologe legte seine Hand auf Georgs Schulter und tätschelte diese. „Das Übliche, Fieber, Schüttelfrost, extreme starke Schmerzen, Durchfall, Erbrechen die ganze Palette. Gehen Sie jetzt zu ihr, sie wird sich freuen, nicht alleine zu sein, wenn sie wach wird.
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Wieder einmal kam Uwe spät nach Hause. Er sah seine Moni auf der Couch liegen, Bruno lag ausgestreckt neben ihr, obwohl sie vereinbart hatten, dass ein Hund nichts auf den Möbelstücken verloren hatte. Zwischen Moni und Bruno lagen einige Wollknäuel und Strickanleitungen. Er zog seine Schuhe aus, stellte sie sorgfältig in den dafür vorgesehenen Schuhschrank und erblickte gleichzeitig die Unordnung.
Es war nicht ganz so schlimm wie gestern, aber dennoch spürte er eine große Enttäuschung. In der Küche fand er eine leere Pizzaschachtel und einen halb gegessenen Salat. Das alles waren keine guten Zeichen. Sorgenvoll setzte er sich zu Moni, nahm ihre Hand und küsste sie zärtlich. „Mein Engel, ich bin jetzt da.“ Sie trug eine bequeme Sporthose und ein zerknittertes Shirt. Er ging davon aus, dass sie noch nicht unter der Dusche war. Dann blinzelte sie mit geröteten Augen. „Hallo.“
Er hätte ihr gerne die Neuigkeiten von Rita erzählt, doch sie war an keinem Gespräch interessiert. „Morgen Nachmittag kommt Hannes zu dir, ich hoffe das ist ok?“ Moni nickte, stand auf, öffnete die Terrassentür und trottete mit Bruno im Schlepptau in den Garten. Ein wunderschöner Sommertag ging zu Ende, leider konnten sie ihn nicht genießen. Uwe bestellte sich ebenfalls eine Pizza und einen Salat, räumte den Müll weg, ging duschen und setzte sich zu ihr. „Mein Engel, kann ich dir helfen? Hast du einen Wunsch?“ Traurig, mit Tränen in den Augen schüttelte sie den Kopf.
„Ich würde gerne ein kühles Radler zum Abendessen trinken, ist das erlaubt?“ Monis Blick könnte man als streng beschreiben, doch für sie war es eher ein fragmichdochnichtsodumm. Sie zuckte desinteressiert mit den Schultern, „ Mir doch egal!“
Wortlos brachte er ihr ebenfalls eins, welches sie dankbar austrank.
Der nächste Tag verlief ähnlich. Erst das Klingeln an der Tür, welches Dr. Hannes Marowski ankündigte, veranlasste Moni dazu, ihr Fernseh-Strick-Lager auf der Couch zu verlassen.
Jetzt, als sie Besuch bekam, war es ihr doch unangenehm, dass sie immer noch nicht geduscht hatte. Obwohl Uwe gestern mehrmals angeboten hatte, ihr bei den Haaren zu helfen, lehnte sie eine Pflege mit den Worten, „Ich hab wirklich andere Probleme!“, dankend ab.
„Sorry, ich...“, doch Hannes hob die Hand. „Guten Tag Moni, es ist alles gut.“ Er zeigte ihr eine Bäckertüte. „Hab uns was Süßes mitgebracht, möchtest du mit mir eine Tasse Kaffee trinken?“ Moni nickte und watschelte in die Küche.
Kurz darauf kam sie mit zwei Tassen in der Hand auf die Terrasse. Im Rasen tobte Hannes mit Bruno, der ihn mit dem Ball im Maul dazu überredet hatte. Der Anblick wirkte amüsant und Moni brachte ein kleines Lächeln zustande.
„Weißt du, meine Liebe,“ er schmatzte laut, der mitgebrachte Apfelstrudel schien sehr lecker zu sein, „Die Erinnerungen, die dir jetzt das Leben so schwer machen, sind ganz normal. Leider kommen sie viel zu spät. Das ist bei jedem Menschen unterschiedlich. Was du dabei nicht vergessen darfst: schließlich waren deine eigenen Kopfverletzungen beinahe tödlich!“ Mit weit aufgerissenen Augen starrte Moni ihn an. „Was?“, er nickte, sperrte seinen Mund auf, um ein weiteres Stück der Köstlichkeit zu vertilgen. „Freilich, du wurdest ja bewusstlos eingeliefert. Um dein Leben haben die Ärzte tagelang gebangt, doch du warst eine tapfere Kämpferin!“ Moni schob ihren Teller beiseite, sie würde kein Stück davon hinunter bekommen, dachte sie doch an ein ganz anderes Gespräch. Schließlich war Hannes der Psychiater.
Er lächelte sie an, „Ja meine Liebe, es geht in erster Linie um dich!“ „Warum hat Uwe...“
„Uwe? In einer nächtlichen Notoperation hatte er dir das Leben gerettet. In deinem Kopf bildete sich ein gefährliches Hämatom. Nur ganz wenige Ärzte können so eine gewagte Operation durchführen, ohne dass der Patient verstirbt.“ Völlig perplex starrte sie auf Hannes. „Warum hat er mir das alles nie erzählt?“ „Tja, an solchen Gesprächen warst du nie interessiert. Georg, Uwe und Victor haben es in den ersten Wochen immer wieder versucht, denn wir alle dachten, die Erinnerungen würden so schneller zurückkommen. Doch du hattest solche Momente geschickt in andere Richtungen gelenkt.“ Moni lächelte frech, „Ja, das kann ich gut.“
„Du wolltest einfach nur schnell wieder gesund werden. Ich kann mich gut daran erinnern, wie du tapfer den Verlust deiner Zehen ertragen hattest. Victor wollte dir Erklärungen geben. Bitte keine Details, ich möchte nach vorn in die Zukunft schauen. Das waren deine bestimmenden Worte. Kurze Zeit später verliebte sich Uwe unsterblich in dich.“ Hannes zwinkerte ihr zu und stopfte sich den Rest der Sahne in den Mund.
Tränen bahnten sich ihren Weg als Moni flüsterte, „Erst jetzt wird mir das alles bewusst. Oh mein Gott, wie schrecklich!“ Sie schluchzte inzwischen laut. Hannes stand auf und nahm sie tröstend in den Arm. „Wenn du möchtest, dann ändern wir deine Medikamente. Ich gebe dir eine höhere Dosis der Stimmungsaufheller und du lässt die Schlaftabletten weg. Stelle dich deiner Vergangenheit und du wirst sehen, die Schatten werden verschwinden.“ „Und was ist mit Herbert?“ „Er darf für immer einen Platz in deinem Herzen haben, das ist sehr wichtig!“
Dankend gab sie Hannes einen Kuss auf die Wange. Sie fühlte sich innerlich befreit, immer noch sehr müde, doch sie spürte eine Art Hoffnung aufkeimen.