Ich stand an dem Abhang. Was machen, dachte sich mein Gehirn? Mein Körper hielt verbissen dieses Geländer fest, weil es sich noch nicht lohnte, Abschied zu nehmen. Das wäre zu einfach. Oder nicht? Einfach abhauen?
Mein Blick fiel auf den Canyon. Es dauerte lange, aber ich schaffte es noch, den Sonnenuntergang unter dieser Himmelpracht zu bewundern. Wie lange war es her, dass ich mich hier her verscharrt hatte? Das erste Mal, eigentlich.
Als die kühle Brise meine Haut zum kribbeln brachte, stieß ich ein Stöhnen aus. Mir war bewusst, dass die dünne Stoffjacke mich nicht wärmte, jedoch war es für fünf Minuten, in denen ich geflohen war, relativ schwer gewesen, den gesamten Kleiderschrank in einen Rucksack zu stopfen. Dennoch schaute ich hoffnungslos ihn hinein. Vielleicht würde sich ja durch Zufall etwas finden, dass mir gegen die Kühle helfen konnte. Die braune alte Autodecke voller Hundehaaren kam hervor, ich zog sie hinaus. Der Boden war ebenso kühl, dennoch saß ich mich hin und beschaute die Farbenpracht im Himmel, umwickelt von dem kratzigen Stoff. Er roch nach Hund.
Meine Gedanken waren aufgewirbelt. Wieso war ich eigentlich weggelaufen, es machte keinen Sinn. Schließlich hatte ich alles, was sich eine sechszehnjährige wünschen konnte. Ein Haus, Auto, Familie, Garten, einen Rasen auf dem man sich dreckig machen konnte, wenn der Hund mit einem spielte. Eine Mutter die die Küche machte und jeden Tag essen machte. Einen Vater der schuftete, um Geld mit nach Hause zu bringen. Eine Schule, die für einen Abschluss sorgte. Man konnte sich eigentlich nicht beschweren. Eigentlich.
Wenn nicht der Tod meiner Tante gekommen war.
Seitdem tat mein Vater als wäre alles normal wie zuvor und umspielte seine Traurigkeit mit der Tatsache, dass er eine Familie hatte, und er diese versorgen müsste. Meine Mutter war kühl wie immer, die lebte ihr Leben für sich und tat sich nichts dabei, zu trauern. Vielleicht ging ihr es auch nicht so schwer wie mir. Die Tochter heulte einmal Tränen, dafür hatten sie Verständnis, aber für die Tatsache, dass es Dinge gab, von denen sie nichts wussten, schrie förmlich in mir daran, es zu sagen, alles. Alles rauszuschreien, einfach die Schmerzen mit einem Mal zu vergessen?
Ich sagte nichts, hielt den Mund, war still, schwieg. Ein ausgesprochenes Wort. Ein verschwiegener Satz. Ein Mund, der offen stand und sagte, dass er nichts reden konnte, schwieg jedoch dabei.
Liegend schaute ich den Himmel an, wie dieser immer dunkler wurde. Nach Hause? Nein, wieso auch? Vermissen würden mich vielleicht ein zwei. Einerseits die Familie, anderseits meine Sitznachbarin. Ich verstand mich mit ihr gut. Ja, sie war nett, normal halt. Wie man eben so tut, wenn alle einen nicht leiden können. Sie verstanden mich nicht, dachte ich immer. Vielleicht bin auch ich diejenige, die sich selbst nicht verstand, aber ich verstellte mich nicht. Nicht wie alle andren. Nicht wie sie.
Die Wucht der Gefühle, die Maskerade, durch die ich sie im Zaum hielt. Die Kraft der Gedanken, bezwungen durch die Maske der Vernunft. Das ewig schlechte Bauchgefühl eingedämmt durch das kühle Gedächtnis. So verbrachte ich meine Jahre, mein Leben. Welches Leben?
Die Augen nun geschlossen folgen die ganzen Gefühle an mir vorbei, wurden fortgeweht von dem Wind, der nun stärker zu winden drohte, mich aber in der Decke sitzen ließ. Er wollte mich nicht wegwehen.
Ich stellte mir einen Raum vor, mit einem Loch und einem Korb nebeneinander. Der karierte Boden stellte einen krassen Kontrast zu den einerseits weißen und schwarz bemalenden Wänden dar. Im Korb war nichts, als ich näher kam und mir das Innere des Holzgeflechtes anschaute. Im Loch lag ebenso nichts, was interessant schien.
Die Decke des Raumes schwarz, die Wände schwarz, der Boden kariert. Was sollte das hier? Was sollte diese Scheiße?!?! Wollt ihr mich verarschen? Was wollt ihr von mir?! Ich weiß es doch nicht. Ich weiß nichts…ich weiß es nicht. Ich weiß nicht wieso ich jetzt weinte. Ich weiß nicht, wieso ich hier war. Ich weiß nicht, wieso sie sterben musste. Ich weiß nur eins, ich konnte nicht mehr. Hört ihr denn nicht mein Geschrei, hört ihr denn nicht, was mit mir geschah? Seht ihr denn nicht, was ich nicht mehr kann? Sprecht ihr denn nicht mehr, was ich nie sagen will? Ihr wisst es doch, ihr seht es alle…nur ich nicht. Ich kann nichts mehr. Meine Ohren hören nichts mehr, meine Augen sehen nichts mehr. Meine Lippen öffneten sich nicht mehr zum Sprechen.
Also sah ich auf, meine Augen öffnen sich, ich verschwand aus dem Raum, in mein Zimmer. Die weißen Wände umhüllten mich. Der weiche Untergrund war nicht mehr der steinige Boden am Canyon.
Ich stand auf und ging auf den Balkon, der sich nebendran befand. Ich schrie immer noch, doch der schall breitete sich nicht aus, er blieb verhüllt, von den stummen Mund meinerseits. Mein Blick kühl haltend atmete ich die frühe Morgenluft ein, die ebenso mein Zimmer heimlich umhüllt hatte. Die Nacht wurde zum Tag. Ich schaute dem Rot zu, als es sich hochkämpfte in den blauen Himmel. Ein neuer Tag. Meine Füße trugen mich aus dem Zimmer, aus dem Fluchtort meines schwarzen Raumes. Meinen Gefühlen. Meinem Schrei. Meinen wahren Ichs.